Psychoanalyse-Tagung: Nicht nur für Freud- Afficionados
Die Internationale Psychoanalytische Vereinigung wagt sich an eine kontroverse Frage: Welchen Beitrag leistet die Analyse zum Verständnis weltweiter Konflikte?
Stadt und Land glänzten ganz durch Abwesenheit, und auch das Grußwort, das Bundespräsident Horst Köhler übermitteln ließ, wurde der Bedeutung dieses Kongresses nicht gerecht. Ob Zufall oder nicht, sprechend schon der Ort der Veranstaltung in der Stauffenbergstraße, dessen Eingang direkt gegenüber dem der "Gedenkstätte deutscher Widerstand" liegt. Die Geschichte der Psychoanalyse - nur eines der leitenden Themen, um die herum dieser Riesenkongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) vor einer Woche organisiert war - ist mit der deutschen Vergangenheit eng verflochten.
Gegründet: 1910 als Internationale Psychoanalytische Vereinigung. Sie gilt als Weltverband der Psychoanalytiker. Mitglieder: ca. 11.000 Selbstverständnis: das "vorrangige akkreditierende und regulierende Organ der Psychoanalyse in der Welt" Ziel: "die kontinuierliche Vitalität und Entwicklung der Psychoanalyse als Wissenschaft, als Behandlungsform und als Beruf sicherzustellen"
So war ich, als Bewunderin Freuds seit den Studententagen an der Freien Universität, glücklich über die Entscheidung der IPV, nach vielen Jahren des Zweifelns endlich doch wieder in der Stadt einzukehren, die in der Frühzeit der Psychoanalyse eine so große Rolle gespielt hat. Das erste Lehr- und Ausbildungsinstitut wurde 1908 hier und nicht in Wien begründet; in den Zwanzigerjahren kamen von überall her Interessenten. Kurzfristig dachte Freud sogar daran, von Wien nach Berlin auszuwandern. Aber Berlin war auch das Herz der Finsternis. Die Nationalsozialisten wollten die Juden ausrotten, weil sie sie für die Feinde der germanischen Herrenrasse hielten - und die Psychoanalyse galt ihnen als eine prototypische "jüdische Wissenschaft" der Zersetzung.
Eine jüdische Wissenschaft war sie ja auch in mehrfacher Hinsicht. Sieht man von Freuds Genie einmal ab, ist sie eine, die aus der spezifischen Familienkultur eines Judentums in der Diaspora erwuchs, das sich von den Fesseln der Religion ebenso wie von Vorurteilen der bürgerlichen Gesellschaft schneller befreien konnte als andere. Wenn man so will, spielt das "Jüdische" an und in der Psychoanalyse immer noch eine große Rolle. Auf dem Kongress befasste man sich mit der Emigration von Analytikern und Theorien und ihren Schicksalen ebenso wie mit dem Holocaust und den Herausforderungen, die er an Therapeuten stellt, die inzwischen mit den Opfern der zweiten und dritten Generation zu tun haben. Zu diesen Opfern sind die "Kriegskinder", die Nachkommen der deutschen Täter- und Mitläufergeneration, getreten. Wie sich Überlebende in Berlin fühlen, wie andere Anhänger dieser "jüdischen" Wissenschaft denken, auch wenn sie selbst vielleicht nur noch sehr mittelbar mit dieser Geschichte in Berührung gekommen sind, konnte man überall hören.
Dabei war die Psychoanalyse seit dem Ende von Freuds Splendid Isolation zu Anfang des 20. Jahrhunderts immer übernational gedacht. Zum Schwergewicht der angelsächsischen Länder, das sich schon vor 1933 andeutete und durch den Zwang zur Emigration noch verstärkt wurde, bildet Lateinamerika seit fast drei Jahrzehnten ein Gegengewicht. Sofort nach Öffnung der Mauer begann die IPV, ein, wie man wohl betonen muss, rein privater Verein, in den osteuropäischen Ländern nach jahrzehntelanger Unterbrechung Gruppen neu zu begründen oder, wie in China oder Korea, ein ganz neues Interesse an Psychoanalyse zu unterstützen. Auf dem Kongress selbst annoncierten stolze Türken mit einem Leaflet auf dem Kaffeetisch die provisorische Assoziierung ihrer Studiengruppe an die IPV. Solche Entwicklungen - gerade auch vor dem Hintergrund so vieler vorgetragener persönlicher oder auch historischer Katastrophen - erinnern den Freud-Afficionado an die Hoffnungen, die der alte Mann mit dem "pessimistischen" (Gut und Böse verlötenden) Menschenbild auf den Eros richtete. Er verbindet sie libidinös und schafft immer größere Einheiten, die den Aggressionstrieb bändigen. Davon aber abgesehen, darf man für die Zukunft wohl auf eine Psychoanalyse gespannt sein, die sich in ganz anderen, etwa muslimischen Traditionen bewähren muss.
Trotz vieler persönlich bedingter Erweiterungen haben sich die Grundlagen der Psychoanalyse nicht verändert. Abgesehen vom Glauben an das Unbewusste und der korrespondierenden Überzeugung, dass der Mensch weder Herr im eigenen Haus ist noch gut, wenn er nicht von bösen anderen verdorben wird, gibt es eigentlich nichts, was man als Dogma bezeichnen könnte. Ohne die Berufung auf Freud jedoch oder die Auslegung eines Freudzitats kam kein Vortragender aus, den ich gehört habe. In einigem Abstand folgten die Briten D. W. Winnicott und W. R. Bion - der eine ein Beziehungsanalytiker, dessen Entdeckung des Übergangsobjekts als "Schmusetuch" von Linus in den "Peanuts" Eingang in die Popkultur gefunden hat; der andere ist mir unvergesslich als Beschreiber von Prozessen des Aus- und Zusammenschließens, von depressiven und euphorischen Zuständen in kleinen Gruppen, solchen, denen ich wie so viele in der 68er-Zeit mein Engagement opferte, ohne dann wirklich weiterzukommen.
Der Erkenntnisdrang des Psychoanalytikers darf vor der eigenen Person nicht haltmachen - dem bloß auf andere gerichteten Helfen- und Heilenwollen begegnete schon Freud mit Ablehnung. Andererseits öffneten die Konzepte des Unbewussten und der Verdrängung im Umgang der Psychoanalytiker untereinander, schon gar bei Konflikten, eine neue Büchse der Pandora. Die Angst vor Streit und Kontroversen und die strafenden Reaktionen darauf begleiten die psychoanalytische Bewegung heute mehr als früher, wo der trotzige Dissident die Regel war, Leute wie Jung oder Adler, die dann eine eigene Schule begründeten.
Auf dem Berliner Kongress der IPV von 1922 - man kann es sich kaum noch vorstellen - waren alle Diskussionen nach Vorträgen tabu, die Presse wurde mit einem Kommuniqué abgefunden. Ein Misstrauen gegen alle Nichteingeweihten, das lange andauerte und dazu beitrug, die Freudsche Psychoanalyse in den Ruch einer Sekte zu bringen. Heute ist man offener und angstloser.
Nach der Therapiewirkungsforschung von Marianne Leuzinger-Bohleber und anderen Analytikern, die der klassischen hochfrequenten Psychoanalyse nicht ungünstig sind, steht heute die Neuropsychoanalyse, vulgo Hirnforschung, im Vordergrund des Interesses. Es wird Neuland betreten, aber oft auch bestätigt, was schon Freud hypothetisiert hat. Wie bedeutungsvoll die ganz frühe Kindheit, wie irreversibel die Schäden, die da passieren! Eigentlich weiß man schon von den Kindern aus Theresienstadt, die in Anna Freuds Londoner Klinik Aufnahme fanden und jahrzehntelang betreut wurden, dass emotionale Schäden aus der vorsprachlichen Zeit nicht mehr zu kompensieren sind. Nach der Wende adoptierte Kinder aus rumänischen Waisenhäusern konnten intellektuell nachreifen - aber nicht emotional.
Die für Nichttherapeuten und Nichtpatienten interessanteste Frage ist natürlich die, was die Psychoanalyse zum Verständnis der Gegenwart beizutragen hat. Was weiß die Psychoanalyse zum Beispiel über den israelisch-palästinensischen Konflikt zu sagen? Es gibt israelische, aber auch einige palästinensische Pschoanalytiker, und sie konnten miteinander reden. Nicht kleiner die Herausforderungen, denen sich Analytiker in desorganisierten, korrupten und durch Krieg und Gewaltherrschaft traumatisierten Gesellschaften stellen müssen. Mit dem Holocaust hat alles angefangen - oder vielleicht schon mit den Kriegszitterern des 1. Weltkriegs, denen Ernst Simmels Interesse galt?
Die Erfahrungen der internationalen Gemeinschaft aus zwei Kriegen und vor allem dem Holocaust haben jüngere Analytiker motiviert und befähigt, originelle Fragen zu stellen. Warum, fragten Analytiker aus Serbien und Bulgarien, haben eigentlich die "good guys", die anständigen Menschen, ja Demokraten, immer so viel mehr Schwierigkeiten, sich zu organisieren, als die "bad guys", die Raffkes und Kriminellen? Ohne sich in den Tiefen historischer Aufrechnungen zu verlieren, vermochte ein Israeli die auffällige Unkreativität dieses demokratischen, debattierfrohen Volkes hinsichtlich seines Lebensproblems vis-à-vis der Palästinenser zu erklären. Hier wie in anderen Fällen, scheinen Psychoanalytiker - geerdet durch ihre Therapien - geeignet, plausiblere Erklärungen abzugeben als Ökonomen oder Politologen.
Die Psychoanalyse entstand in den vergleichsweise idyllischen Jahren vor dem 1. Weltkrieg. Erst im "Zeitalter der Extreme" (Eric Hobsbawm) musste deshalb auch die Freudsche Psychoanalyse ihre wirkliche Probe bestehen. Was, wenn psychische Familienkonflikte sich mit der Surrealität von zivilisatorischem Zusammenbruch, direkter körperlicher Bedrohung, echter Täterschaft, Krieg und dem Zusammenbruch aller moralischen Gewissheiten verbinden? Es sind Herausforderungen, die nach meinem Eindruck zu einer Wiederkehr der lange vernachlässigten psychoanalytischen Interessen an Gesellschaft, an Politik seitens der Psychoanalytiker geführt haben. Die Opfer des Holocaust, seien es Opfer der ersten, zweiten oder dritten Generation, können zum Beispiel nicht ohne den Beistand therapiert werden, den eine selbstkritische, empathische Öffentlichkeit leistet. 1922, zum 7. und bestbesuchten Kongress der IPV zwischen den Weltkriegen, versammelten sich 256 Leute in der Berliner Kurfürstenstraße. In der Stauffenbergstraße waren es diesmal 3.000.
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