Psychische Belastung am Arbeitsplatz: „Ein Raum ohne Telefon“
Arbeitsschützer sollen psychische Belastungen in Betrieben identifizieren – doch viele wissen noch gar nicht, wie. Die Psychologin Hiltraut Paridon erklärt, was man tun kann.
taz: Frau Paridon, ihr Institut forscht zu psychischen Belastungen und Arbeitsschutz und Sie richten Seminare dazu aus. Steigt das Interesse am Thema?
Hiltraut Paridon: Oh ja. Vor wenigen Jahren mussten wir Seminare zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen aus mangelndem Interesse noch absagen. Dieses Jahr werden wir gleich zwei ausrichten. Zu uns kommen vor allem die Aufsichtspersonen von den Unfallversicherungsträgern, die Betriebe zu Fragen von Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz beraten, aber auch die Fachkräfte der Unternehmen selbst, die das Thema betreuen. Es gibt enormen Beratungsbedarf.
Was werden Sie gefragt?
Wie solche Gefährdungsbeurteilungen durchzuführen sind. Das Gesetz schreibt ja vor, dass jeder Betrieb eine Gefährdungsbeurteilung machen muss. Aber bisher ging es dabei vor allem um physikalische oder chemische Gefährdungen wie Lärm und Gefahrstoffe. Jetzt müssen die Betriebe lernen, wie man psychische Belastungen erfasst.
Wie tut man das?
Es gibt ja keine technischen Messinstrumente. Also müssen sie die Arbeitsaufgabe, die Arbeitsinhalte und -organisation betrachten, die Beschäftigten befragen und eventuell auch beobachten.
Klingt nach viel Aufwand.
Ja, man kann es sehr aufwendig machen, mit sogenannten Expertenverfahren. Da werden alle Arbeitsabläufe über einen längeren Zeitraum beobachtet und von Experten eingeschätzt. Solche Verfahren wendet man vor allem aus wissenschaftlichem Interesse an. Um im Alltag herauszufinden, ob in Betrieben psychische Fehlbelastungen existieren, empfehlen wir orientierende Verfahren.
Wie funktionieren die?
In der Regel ist es ein kurzer Fragebogen, der allen Beschäftigten vorgelegt wird. Wir fragen etwa, ob sie ihre Tätigkeit häufig unter Zeitdruck durchführen müssen oder ob sie ständig unterbrochen werden. Aber es geht auch um soziale Beziehungen, etwa, ob Beschäftigte genug Anerkennung für ihre Tätigkeit bekommen.
An welchem Punkt sagen Sie, hier muss sich etwas ändern?
Es gibt bei psychischen Belastungen keine allgemeingültigen Grenzwerte. Deshalb muss der Betrieb festlegen, ab wann er reagiert. Wenn beispielsweise über 70 Prozent der Belegschaft die Kommunikation kritisiert, sollte man Maßnahmen ergreifen.
Maßnahmen?
Dann muss sich im Betrieb etwas ändern. Das Schlimmste ist, wenn der Chef sagt, okay, ich weiß jetzt, dass es den Leuten schlecht geht, aber ich mache nichts. Jeder Arbeitgeber ist verpflichtet, psychische Fehlbelastungen abzustellen.
Aber was, wenn der Chef etwa sagt, ich kann Taktzeiten nicht verlängern, dann wird es wirtschaftlich unrentabel?
Tja, da können wir nur versuchen, ihm zu zeigen, dass es Möglichkeiten gibt und andere Unternehmen in der gleichen Branche schon umsteuern. Es gibt viele Dinge, die man tun kann, ohne dass es viel Geld kostet.
Zum Beispiel?
Es gibt Callcenter, die haben jetzt einen ruhigen Raum, damit die Angestellten einen kurzen Mittagsschlaf halten können. Oder sie verbessern den Schallschutz, damit der Geräuschpegel geringer wird. Jeder Betrieb braucht individuelle Lösungen.
Haben Sie an Ihrem Institut auch etwas verändert?
Ja. Wir haben jetzt ein stilles Büro. Einen Ort, wo man in Ruhe ohne klingelnde Telefone Texte lesen oder Artikel schreiben kann, sogar liegend auf einem Sofa.
Gefährdungsbeurteilungen werden nur von etwa der Hälfte der Betriebe durchgeführt. Und dabei spielen psychische Belastungen bislang kaum eine Rolle. Wie soll sich das ändern?
Durch Aufklärung, und auch weil die Arbeitsschützer der Unfallversicherungsträger in den Betrieben darauf bestehen.
Aber wie oft kommt ein Arbeitsschützer in den Betrieb?
Das kann in der Tat Jahre dauern, weil die Aufsichtspersonen sehr viele Unternehmen betreuen. Es liegt also auch an den Beschäftigten, auf ihre Rechte zu pochen.
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