Psychiater über Krieg im Libanon: „Die erste Reaktion ist instinktiv“
Über Beirut donnern israelische Kampfflugzeuge hinweg, die Menschen sorgen sich vor einem den ganzen Libanon betreffenden Krieg. Was macht das mit ihnen?
taz: Herr Sassine, über der libanesischen Hauptstadt Beirut sind immer wieder die Kampfflugzeuge des israelischen Militärs zu hören. Und die Unsicherheit, was als nächstes kommen könnte, zehrt an den Leuten. Sie betreuen als Psychiater Menschen, denen diese Bedrohungslage zusetzt. Worüber klagen ihre Patient*innen?
Elio Sassine: Instabilität und eine latente Bedrohungslage existieren schon lange im Libanon. Seit der Explosion am Hafen in Beirut vor vier Jahren haben wir hier eine Epidemie von Angststörungen und Depressionen. Außerdem sind posttraumatische Belastungsstörungen – kurz PTBS genannt – weit verbreitet, insbesondere unter den Opfern der Explosion. Das jüngst öfter hörbare Donnern der israelischen Flugzeuge, die im Überschall über Beirut fliegen, hat bei vielen Erinnerungen an die Explosion geweckt. Angstzustände, Panikattacken und Schlafstörungen haben dadurch noch zugenommen.
taz: Wenn die Flugzeuge die Schallmauer durchbrechen, hört sich das wie eine Explosion an. Israel wird deshalb vorgeworfen, im Libanon auch einen psychologischen Krieg zu führen.
Sassine: Ob es eine Explosion ist oder sich erst mal nur so anhört – die erste Reaktion des Menschen ist instinktiv. Bis man versteht, dass es nur ein Überschallknall ist, hat man Angst, vielleicht sogar Todesangst – und damit ist der Schaden schon angerichtet. Es ist schwierig, diese Geräusche sofort zu rationalisieren. Gerade die Menschen, die bereits viel durchgemacht haben – etwa die Explosion am Beiruter Hafen –, erleben unmittelbar eine Wiederholung des Vergangenen.
taz: Welche anderen Taktiken der psychologischen Kriegsführung fährt Israel gegen den Libanon auf?
Sassine: Die Drohung eines totalen Krieg, bei dem es nicht mehr nur um gezielte Angriffe geht, wird über Medien, Whatsapp sowie die sozialen Netzwerke verbreitet. Manche Menschen haben das Land verlassen, andere ihren Urlaub im Libanon abgebrochen. Denn es kursieren ständig Gerüchte: Diese Nacht könnte der Krieg ausbrechen. Diese permanenten Gerüchte und Drohungen sind psychologisch noch schädlicher als die Überschallknalle.
taz: Was macht sie so schwerwiegend?
Sassine: Sie lassen uns in ständiger Bedrohung und Unsicherheit leben, in der ständigen Erwartung, dass bald etwas passieren wird. Das geht nun schon seit Wochen so. Als der Krieg in Gaza vor zehn Monaten begann, tauchten die ersten Drohungen israelischer Politiker in den Medien auf: Der Libanon solle bombardiert und eingenommen, Beirut in Schutt und Asche gelegt werden. Wir wissen, wie die israelische Kriegsführung aussehen kann. Wir sehen es in Gaza.
taz: Die Menschen haben also das Gefühl, permanent wachsam sein zu müssen?
Sassine: Ja, das nennt man Hypervigilanz und es kann ein Symptom für eine posttraumatische Belastungsstörung sein. Aber aufgrund der derzeitigen Situation im Libanon sind wir nun wohl alle übermäßig wachsam. Jedes laute Geräusch, selbst eine zuschlagende Tür, lässt uns aufschrecken und in eine Kampf- oder Fluchtreaktion verfallen.
taz: Wie kann diese Reaktion aussehen?
Sassine: Wir sehen, was in Gaza Schreckliches passiert: Menschen, die unter Trümmern sterben, Kinder, die enthauptet werden. Das ist sehr belastend, vor allem im Libanon – denn wir wissen, dass wir die nächsten Opfer sein könnten. Der Panikmodus setzt ein – dann fühlt es sich so an, als würde gleich etwas passieren. Diese instinktive Kampf-oder-Flucht-Reaktion des Menschen sollte nur Sekunden dauern, ist hier aber Dauerzustand.
Zu den Symptomen der Angstzustände, PTBS und Depressionen, unter denen viele hier leiden, gehören unter anderem unaufhaltsam kreisende Gedanken, Schlaflosigkeit, Gewichtsverlust und Appetitlosigkeit. Depressionen können zu anhaltender Verzweiflung, Pessimismus und einem Verlust des Interesses am Leben führen. Mit PTBS geht weiter das Vermeiden von bestimmten Situationen einher, und die Betroffenen sind oft reizbar.
taz: Dem Krieg kann man auch im normalen Alltag kaum entkommen: Das GPS-Signal ist gestört, oft wird als Standort, etwa auf Google Maps, der Flughafen von Beirut angezeigt – obwohl man sich ganz woanders aufhält. Auf Dating-Apps werden einem sogar Profile aus Israel vorgeschlagen, denn auch dort wird im Norden des Landes das GPS gestört. Ist das ebenfalls ein Teil der psychologischen Kriegsführung?
Sassine: Das sind keine Lappalien: Es zeigt, dass Israel in der Lage ist, das tägliche Leben der Menschen beeinflussen zu können. Das ist beängstigend.
taz: Trotz aller Sorgen posten viele Libanes*innen auch Fotos vom Strand, von Hochzeiten und wilden Partys – ein scheinbar fröhlicher Sommer.
Sassine: Das ist kein Paradox. Ich bin 58 Jahre alt und gerade in meiner Generation haben wir von Geburt an Kriege erlebt. Ohne Bewältigungsmechanismen wären wir vor Verzweiflung wohl gestorben. Deshalb genießt man in diesem Land die Momente, in denen man nicht direkt bedroht ist.
Es ist gut, wenn die Leute ihre Sorgen wegtanzen. Aber wenn in bestimmten Regionen des Landes, vor allem im Süden, Menschen sterben oder vertrieben werden, dann sollte man sich aus Gründen der Pietät ein bisschen zurückhalten. Das ist meine persönliche Ansicht.
taz: Welche Bewältigungsmechanismen gibt es sonst noch?
Sassine: Es ist wichtig, vorzubeugen. Dafür gibt es gute Strategien: nicht zu viele Nachrichten konsumieren, vor allem nicht aus unzuverlässigen Quellen, denn die ständigen Updates können überwältigend sein. Über Sorgen sprechen. Und wenn die persönliche Situation ernster wird, sollte man sich professionelle Hilfe holen. Bei Schlafproblemen können Ärzt*innen außerdem eine geringe Dosis eines passenden Medikaments verschreiben. Auch ein routinierter Tagesablauf hilft, einschließlich Sport und Arbeit. Und gerade Kinder sollten nicht mit beunruhigenden Nachrichten konfrontiert werden. Wenn die Kleinen Angst bekommen, sollten sie beruhigt werden und ihnen die Situation in aller Ruhe erklärt werden.
taz: Es heißt oft, Libanes*innen seien sehr resilient, und dass der Libanon wie ein Phönix aus der Asche immer wieder auferstehe.
ist Psychiater und Dozent in Beirut. Er beschäftigt sich vor allem mit kriegsbedingten psychischen Erkrankungen und ist Vizepräsident von APEG, einer Organisation, die Kinder psychatrisch behandelt, die von Kriegen betroffen sind. Die Organisation betreibt kostenlose Kliniken für psychische Gesundheit im ganzen Libanon
Sassine: Resilienz ist ein vager Begriff. Es stimmt zwar, dass die Libanes*innen viel ertragen haben und dadurch eine gewisse Widerstandsfähigkeit aufgebaut haben. Doch die den Libanes*innen nachgesagte Resilienz kann auch Ausdruck der Unfähigkeit sein, Veränderungen durchzusetzen. Die Menschen haben immer wieder versucht, das politische System im Libanon zu verändern, vor allem während der großen Proteste im Jahr 2019. Aber das zutiefst korrupte politische System machte es fast unmöglich, echte Veränderungen zu erreichen.
Was Resilienz genannt wird, ist eher eine Anpassung an die bestehende Situation, wenn ein Wandel unerreichbar scheint. Kurzfristig schützt das vielleicht vor Ängsten, aber es behindert auch die Fähigkeit, aktiv einen dauerhaften Wandel in Politik und Gesellschaft zu gestalten. Sich für Veränderung einzusetzen, kann die Psyche positiv beeinflussen.
taz: Einige versuchen, den Libanon zu verlassen – doch es gibt auch einen Gegentrend: Viele in der Diaspora lebende Libanes*innen möchten gerade jetzt in den Libanon zurückzukehren. Warum?
Sassine: Ich habe selbst Freunde, denen es so geht. Und auch mein Sohn lebt in der Schweiz und ist vor einigen Tagen im Libanon angekommen. Das liegt an dem starken Bedürfnis, solidarisch zu sein, in schwierigen Zeiten zusammenzustehen – ein Charakterzug, der in der libanesischen Gemeinschaft tief verwurzelt ist. Beim letzten Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Jahr 2006 konnte man sehen: Wenn es ernst wird, steht das Land zusammen, die Menschen zeigen viel Solidarität. Das treibt viele an, zurückzukommen und ihr Land zu unterstützen – trotz der Risiken, die sie damit eingehen.
Ich habe selbst im Ausland studiert, als der Bürgerkrieg im Libanon (von 1975 bis 1990, Anm. d. Red.) tobte – und habe mich sehr unwohl dabei gefühlt, außerhalb meines Landes zu sein. Es ist oft besser, vor Ort zu sein, dort aktiv helfen zu können, als sich aus der Ferne ohnmächtig und besorgt zu fühlen.
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