Prozess zum Konzentrationslager Stutthof: Die Schuld der Sekretärin
Irmgard F., Beruf: Rentnerin, frühere Tätigkeit: Chefsekretärin im KZ. 75 Jahre lang blieb sie unbehelligt. Ende des Monats beginnt der Prozess.
I rmgard F. ist 96 Jahre alt und lebt in einem Pflegeheim in der Nähe von Hamburg. Geboren in einem Dorf südöstlich von Danzig, besuchte sie dort die Volksschule und absolvierte anschließend eine kaufmännische Ausbildung. Danach, schon mitten im Krieg, arbeitete sie als Stenotypistin bei der Dresdner Bank in Marienburg. 1954 heiratete sie in der Bundesrepublik Heinz F. Bis zu ihrer Verrentung arbeitete Irmgard F. dann als Verwaltungsangestellte in Schleswig. Strafrechtlich ist sie bisher nicht in Erscheinung getreten.
Ab dem 30. September aber steht Irmgard F. vor dem Landgericht in Itzehoe, angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in 11.430 Fällen.
Sztutowo ist der Name eines Dorfes mit etwa 3.000 Einwohnern. Es liegt östlich von Gdańsk, dem früheren Danzig. Etwas außerhalb befindet sich, ein wenig von der Straße zurückgesetzt, eine in die Jahre gekommene herrschaftliche Villa. Folgt man dem Weg am Gebäude entlang, wird eine Toreinfahrt erreicht. Dahinter erstreckt sich ein lang gestrecktes zweigeschossiges Verwaltungsgebäude mit rotbrauner Fassade. Die ehemalige Kommandatur des Konzentrationslagers Stutthof gehört heute zur gleichnamigen Gedenkstätte. Hier ist unter anderem das Archiv untergebracht.
Fast zwei Jahre lang, vom 1. Juni 1943 bis zum 1. April 1945 war dies der Arbeitsplatz von Irmgard F. Denn zwischen ihrem Leben in der Filiale der Dresdner Bank in Marienburg und dem einer verheirateten Verwaltungsangestellten in Schleswig-Holstein gab es da noch eine Station: als Sekretärin im KZ. Hier lernte sie offenbar auch ihren späteren Mann kennen, den SS-Oberscharführer Heinz F.
Sie schrieb für den KZ-Kommandanten
Irmgard F. fungierte aber nicht als irgendeine Schreibkraft. Den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zufolge arbeitete sie direkt dem Lagerkommandanten Paul-Werner Hoppe und seinem Adjutanten zu. Über ihren Schreibtisch ging die ein- und ausgehende Post, darunter auch die Anordnungen des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamts in Oranienburg, die Kommandanturbefehle. Sie schrieb auf, was Hoppe ihr diktierte.
Oder, um es entsprechend der neueren bundesdeutschen Rechtsprechung zu formulieren: Irmgard F. soll wesentlich dazu beigetragen haben, dass im KZ Stutthof die Mordmaschine reibungslos funktionierte und immer mehr Menschen gewaltsam aus dem Leben riss.
Irmgard F. ist sich, nach allem was man weiß, keiner Schuld bewusst. Sie hat eingeräumt, als Sekretärin im KZ Stutthof gearbeitet zu haben, aber dort habe sie sich keiner Verbrechen schuldig gemacht. Man habe sie dienstverpflichtet und sie sei bei der Wehrmacht angestellt gewesen. Sie habe auch nichts von Morden in dem eigentlichen Lagerkomplex gewusst, den sie niemals betreten habe.
Das Lager, die Baracken, die Tötungsmethoden
Dieses Lager beginnt unmittelbar hinter der Kommandatur. Nur ein Teil davon ist heute noch erhalten. Schon aus der Entfernung erkennt man die Wachtürme mit ihren Kanzeln, auf denen SS-Männer mit Gewehren jeden Fluchtversuch verhindern sollten. Hinter einem nach innen gebogenen Stacheldrahtzaun erstrecken sich auf flachem Gelände primitive eingeschossige Baracken. In einigen der ungeheizten Gebäude kann man die hölzernen dreistöckigen Betten erkennen, in denen die Häftlinge nächtigen mussten – aber nicht ein Mensch in einer Schlafstatt, sondern zwei, drei und mehr. Bettwäsche gab es nicht.
Das KZ Stutthof war, je näher die Rote Armee 1944 an Nazideutschland heranrückte, immer stärker überbelegt. Zehntausende drängten sich in dem Komplex und seinen vielen Außenlagern, Juden, Polen, Kriegsgefangene, Widerstandskämpfer, Frauen, Männer, Zehntausende, die minderwertigste Nahrung erhielten, kaum Wasser, das Brot mit Spänen, Kleie und Abfällen gestreckt, für die es keine Bäder gab, keine medizinische Versorgung, die diesen Namen verdient hätte, dafür aber, nur etwas abseits gelegen, ein Krematorium mit einem hohen Schornstein.
Juristen haben dafür eine Formulierung gefunden: Tötungen durch lebensfeindliche Bedingungen.
Die Möglichkeiten, in Stutthof eines unnatürlichen Todes zu sterben, waren mannigfaltig und der Tod höchstwahrscheinlich. Da gab es eine Genickschussanlage genannte Einrichtung, in die Häftlinge von als Ärzte verkleideten SS-Männern geführt wurden und in denen vorgeblich die Größe der Gefangenen festgestellt werden sollte. Tatsächlich warteten, hinter einer Wand mit der Messeinrichtung verborgen, andere SS-Angehörige, die die Menschen heimtückisch erschossen.
SS-Wachmann Am 7. Oktober, nur eine Woche nach Beginn des Verfahrens gegen Irmgard F. in Itzehoe, beginnt vor dem Landgericht Neuruppin ein weiterer NS-Prozess. Angeklagt ist ein 100 Jahre alter ehemaliger SS-Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen.
Beihilfe zum Mord J. S. soll laut Anklage durch seine Tätigkeit im Hauptlager des ehemaligen KZ von 1942 bis Februar 1945 Hilfe zur grausamen und heimtückischen Ermordung von Lagerinsassen geleistet haben. Dabei geht es unter anderem um die Erschießung von sowjetischen Kriegsgefangenen im Jahr 1942 und Beihilfe zur Ermordung von Häftlingen mit dem Giftgas Zyklon B. Angeklagt ist er wegen Beihilfe zum Mord in 3.518 Fällen.
Das KZ In Sachsenhausen waren zwischen 1936 und 1945 mehr als 200.000 Menschen inhaftiert. Zehntausende Häftlinge kamen dort durch Hunger, Krankheiten, Zwangsarbeit, medizinische Versuche und Misshandlungen um oder wurden Opfer systematischer Vernichtungsaktionen.
Die Verhandlung Das Verfahren soll nicht in Neuruppin, sondern in der Nähe des Wohnorts des Beschuldigten in der Stadt Brandenburg stattfinden, um einen langen Transport des Angeklagten zum Ort der Verhandlung zu vermeiden. (dpa/taz)
Da existierte eine Schmalspurbahn, bei der die KZ-Schergen einige Personenwaggons luftdicht verschlossen hatten und durch deren Dachluken sie Zykon B warfen, wenn der Wagen berstend voll mit Jüdinnen und Juden war. Es gab die endlosen Arbeitseinsätze draußen in den Außenlagern, wo die Gefangenen härteste Arbeit bis zum Zusammenbruch leisten mussten. Und es kam zu mehreren Transporten, hinaus aus Stutthof – nach Auschwitz, wo die Mordkapazitäten höher waren.
Keine Seltenheit: Frauen als Bedienstete im KZ
Irmgard F. zählte zum sogenannten SS-Gefolge. So nannte man die weiblichen Zivilangestellten der SS, die in Frontlazaretten, bei der Polizei oder eben in Konzentrationslagern tätig waren. Ihre genaue Zahl ist bis heute unbekannt, aber in dem für weibliche Häftlinge errichteten KZ Ravensbrück sind etwa 3.500 Aufseherinnen in Kurzlehrgängen ausgebildet worden, oft junge Fabrikarbeiterinnen, für die der Job einem sozialen Aufstieg gleichkam. Allein dort taten mehr als 3.000 Aufseherinnen ihren Dienst. Anfangs suchte man sie per Zeitungsannonce. Nur die wenigsten unter ihnen waren Mitglieder der NSDAP. Schätzungen gehen davon aus, dass im deutsch besetzten Polen etwa 4.000 Frauen in Konzentrationslagern Dienst taten, insgesamt wird vermutet, dass sie etwa zehn Prozent des KZ-Personals ausmachten.
Auch wenn viele von ihnen dienstverpflichtet waren, wirklich gezwungen wurde niemand von ihnen dazu, andere Menschen zu bewachen, sie zu schlagen, zu quälen und zu verhöhnen. Frieda M. gab nach dem Krieg zu Protokoll: „Als ich in das KZ-Lager kam und das himmelschreiende Elend sah, besprach ich mich mit meiner Freundin. Wir kamen beide überein, dass wir hier auf keinen Fall bleiben. Nach anfänglichen Schwierigkeiten konnten wir auf eigene Kosten nach Hause fahren.“
Eine Aufseherin mit dem Namen Margarete T. dagegen erklärte, die Zeit in Ravensbrück sei die schönste ihres Lebens gewesen.
Wer sich für eine Arbeit im SS-Gefolge entschied, konnte deutlich mehr verdienen als in der Privatwirtschaft. Die Bezahlung erfolgte nach der Tarifordnung der Angestellten im öffentlichen Dienst und war damit um etwa 50 Prozent höher. Eine ehemalige KZ-Aufseherin aus Ravensbrück sagte: „Es war eine finanzielle Sache. Ich weiß nicht mehr, wie viel Geld ich verdient habe bei der Post und ich kann auch nicht mehr sagen, wie viel ich da bekommen habe, aber es war doch mindestens 100 Mark mehr. Also habe ich gar nicht lange überlegt und gesagt, gut, wenn ich da mehr verdienen kann, gehe ich da hin.“
Irmgard F., die Chefsekretärin von Stutthof, ist nach dem Krieg davongekommen. Dabei war ihre Anwesenheit im KZ bekannt. Immer mal wieder wurde sie vernommen, zuerst 1954, wo sie angab, der gesamte Schriftverkehr sei über ihren Schreibtisch gegangen. Aber sie blieb eine Zeugin und wurde keine Angeklagte. Jahrzehntelang sah die bundesdeutsche Strafrechtspraxis eine Anklage wegen Mordes oder der Beihilfe zum Mord nur bei Nachweis einer direkten Tatbeteiligung vor.
Andere hatten weniger Glück. Im ersten polnischen Stutthof-Prozess wurden im Jahr 1946 in Danzig unter anderem fünf KZ-Aufseherinnen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Über eine von ihnen mit dem Namen Ewa Paradies hatte eine Zeugin ausgesagt: „Sie befahl einer Gruppe von weiblichen Gefangenen, sich in der Eiseskälte des Winters zu entkleiden und übergoss diese dann mit eiskaltem Wasser. Wenn die Frauen sich bewegten, dann schlug sie, Paradies, diese.“
F.s Chef, der KZ-Kommandant Paul-Werner Hoppe, der Mann, der die herrschaftliche Villa in Stutthof bewohnt hatte, genoss dagegen die Nachsicht bundesdeutscher Justiz. Im Dezember 1955 verurteilte ihn das Landgericht Bochum wegen Beihilfe zum Mord zu lediglich fünf Jahren und drei Monaten Zuchthaus. Die Richter attestierten Hoppe, ein „Irregeleiteter“ und „Verführter“ gewesen zu sein. Zwar kassierte der Bundesgerichtshof diesen Schuldspruch und Hoppe wurde 1957 zu neun Jahren Haft verurteilt, aber schon 1960 kam der frühere KZ-Kommandant wieder auf freien Fuß.
Der Weg der Ermittler
Michael Otte arbeitet in der Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen im baden-württembergischen Ludwigsburg. Im Juni 2015 begann der Staatsanwalt mit neuen Ermittlungen gegen das Personal des KZ Stutthof. Die juristische Sicht der Dinge hatte sich verändert, nun gerieten auch die Personen in den Blick, denen man keine direkte Mordtat nachweisen konnte.
Anders als beim Vernichtungslager Auschwitz existiert für Stutthof keine umfassende Liste des dortigen Personals aus der Nazizeit. Aber es gibt in Ludwigsburg eine Kartei. Auf ihr sind die Namen aller jemals im Zusammenhang mit mutmaßlichen NS-Verbrechen verdächtigen Personen verzeichnet, darunter auch solche, die vor Jahrzehnten nur als Zeugen vernommen worden sind. Diese Kartei umfasst mehr als 1,7 Millionen Namen. Dort fand Otte den Namen von Irmgard F. Auch der ihres Ehegatten, des SS-Oberscharführers Heinz F., ist dort verzeichnet, zusammen mit der Information, dass Ermittlungen gegen ihn Anfang der 1980er Jahre begannen und gleich wieder eingestellt wurden. Denn da war Heinz F. schon lange verstorben.
Die Ermittler der Zentralen Stelle Ludwigsburg reisten zu weiteren Recherchen in die Gedenkstätte Stutthof und konsultierten Experten. Man fand weitere Namen. „Am Ende hatten wir die Namen von mehreren Hundert Personen generiert“, sagt Otte am Telefon.
Es genügt bei dieser Puzzlearbeit nicht, einfach nur einen Beleg für eine Tätigkeit in Stutthof zu finden. Um eine Person wegen Beihilfe zum Mord belangen zu können, muss diese nach der bundesdeutschen Rechtsprechung zu einer Zeit im KZ gearbeitet haben, während der dort die Gefangenen nicht nur hungerten, gequält und zur Zwangsarbeit herangezogen wurden. Es müssen systematische Tötungen stattgefunden haben.
Für Stutthof gilt dieser Zustand ab dem Sommer 1944 als gegeben.
Michael Otte, Staatsanwalt bei der Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen
„Wir kriegen heute nur noch die, die in der zweiten oder dritten Reihe gestanden haben, also zum Beispiel Wachmänner auf den Türmen“, sagt Michael Otte. Höhere Ränge sind aufgrund ihres Alters längst verstorben, und auch die jetzt noch Lebenden befinden sich in so hohem Alter, dass über allen Ermittlungen ständig das Damoklesschwert der Verhandlungsunfähigkeit oder des Todes schwebt. Otte und seine Kollegen gingen im nächsten Schritt daran, zu überprüfen, wer von den Personen auf seiner vorläufigen Liste von im KZ Beschäftigten noch am Leben war. „Das geschieht in der Regel über die Daten der Deutschen Rentenversicherung und der Geburtsstandesämter, soweit sich diese auf heutigem deutschem Gebiet befinden“, erklärt der Staatsanwalt. Im Fall von Irmgard F. war die Recherche recht einfach, denn in den alten Vernehmungen aus den 1960er und 1980er Jahren fand sich der Hinweis auf ihren damaligen Wohnsitz in Schleswig-Holstein. „Dort haben wir nachgefragt und erhielten die entsprechende Antwort“, sagt Otte.
Im Juni 2016, ein Jahr nach Beginn der Vorermittlungen, war klar: Irmgard F. lebt. Die Zentrale Stelle darf in NS-Verfahren nur die Vorermittlungen vornehmen. Danach ist die zuständige Staatsanwaltschaft dran. Noch im selben Monat bekam die Behörde in Itzehoe deshalb Post aus Ludwigsburg – ein umfangreicher Schriftsatz von 120 Seiten über die frühere Sekretärin und das Konzentrationslager Stutthof. Es eilte, denn Frau F. war da schon 91 Jahre alt.
Die biologische Uhr trickt
Sie blieb nicht die einzige Beschuldigte. Da fand sich ein in Wuppertal lebender SS-Wachmann, der 1944/45 in dem KZ Dienst getan hatte. Ein weiterer Wachmann, der zwischen 1942 und Herbst 1944 mit seinem Gewehr dafür gesorgt hatte, dass kein Häftling entfliehen konnte, lebte in der Nähe von Münster. Und in Hamburg wohnte Bruno D., der 1944 in einem der Wachtürme saß.
D. ist im vergangenen Jahr wegen Beihilfe zum Mord in 5.232 Fällen zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Der Prozess in Münster musste abgebrochen werden, weil der greise Angeklagte verhandlungsunfähig wurde. Im Wuppertaler Fall lehnte das Landgericht die Eröffnung einer Hauptverhandlung im März 2021 aufgrund des angegriffenen Gesundheitszustands des Beschuldigten ab.
Nun also Irmgard F. Sie ist nicht die erste weibliche KZ-Beschäftigte, gegen die in jüngster Zeit ermittelt worden ist. Doch ein Verfahren in Kiel platzte 2016, weil die Angeschuldigte, eine frühere Funkerin im KZ Auschwitz, verhandlungsunfähig wurde. In München endeten Ermittlungen gegen die beschuldigte Telefonistin von Stutthof, Christel R., mit ihrem Tod im Jahr 2017. Und auch Verfahren gehen ehemalige KZ-Aufseherinnen in Ravensbrück scheiterten.
Irmgard F. lebt in einem Pflegeheim einer Kleinstadt. Der Klinkerflachbau, ausgestattet mit einem Walmdach, macht einen freundlichen Eindruck. Die Staatsanwaltschaft Itzehoe erwirkte bei ihr 2017 eine Hausdurchsuchung, bei der sie erstmals davon erfuhr, dass gegen sie wegen Beihilfe zum Mord ermittelt wird. Es wurde nichts Relevantes gefunden. Sie wurde vernommen und gab an, sich keiner Schuld bewusst zu sein. Sie habe in Stutthof keine Morde wahrnehmen können und könne sich nur erinnern, dass KZ-Kommandant Hoppe ihr Bestellungen für Gartenbedarf diktiert habe. Eine ärztliche Untersuchung ergab, dass F. eingeschränkt verhandlungsfähig ist.
Wie schuldig ist eine Sekretärin?
Aber kann man ihren Dienst am Schreibtisch mit dem auf einem der Wachtürme des KZ gleichsetzen? Die heute 96-Jährige hat sich, soweit bekannt, an keinen Grausamkeiten beteiligt. Möglicherweise wird man ihre Aussage, dass sie niemals das Lager selbst betreten habe, nicht widerlegen können.
Dass sie allerdings tatsächlich nicht mitbekommen haben will, dass in Stutthof Menschen planmäßig ermordet worden sind, muss man ihr nicht abnehmen. Schon ein Blick aus einem der Fenster des Kommandanturgebäudes ermöglichte die Sicht auf die Häftlingsbaracken. Ihre Position, ihre Kontrolle der laufenden Postein- und -ausgänge, ihr enges Verhältnis zum Kommandanten, die Gespräche unter den Kameradinnen und Kameraden, all das spricht für das Gegenteil.
Michael Otte von der Zentralen Stelle in Ludwigsburg sagt dazu: „Beihilfe ist die ‚Förderung der Haupttat‘, das gilt also nicht nur für diejenigen SS-Männer, die Menschen in die Gaskammern trieben, sondern auch für den Wachmann, der eine Flucht verhinderte. Auch dadurch ermöglichte und förderte er die Mordtaten, die im Lager verübt wurden.“
Irmgard F. habe als Sekretärin Transportlisten entgegengenommen und weitergegeben. Der Umfang ihrer Tatbeteiligung sei wohl kleiner als bei einem SS-Mann, der die Gaskammern verriegelte, meint der Staatsanwalt; das ändere aber nichts an ihrer generellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit als Tatgehilfin.
Tatsächlich wird der Prozess in Itzehoe das erste bundesdeutsche Verfahren gegen eine weibliche Beschuldigte sein, die nicht unmittelbar an Mordtaten mitgewirkt hat, sondern mutmaßlich als Schreibtischtäterin in einem warmen Dienstzimmer das Massenmorden förderte.
Der Prozess gegen die 96-Jährige wird vor einer Jugendstrafkammer stattfinden, denn zum Tatzeitpunkt war sie noch eine Heranwachsende, 18 und 19 Jahre alt. Mehr als zehn Nebenkläger, Überlebende des Konzentrationslagers oder deren Nachkommen, wollen vor Gericht Zeugnis ablegen. Der Richter hat Verhandlungen im wöchentlichen Turnus angesetzt. Die Termine reichen bis zum Juni 2022.
Bis dahin wird Irmgard F. 97 Jahre alt geworden sein. Aber nicht ihr hohes Alter ist das eigentliche Problem. Sondern dass sich 75 Jahre lang niemand in der bundesdeutschen Justiz für ihre mutmaßliche Tatbeteiligung interessierte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen