Prozess um Polizeigewalt: Kommissar Zuschlag
Im Prozess gegen den Polizisten Marcel B. kassiert ein Gutachter dessen Geschehens-Schilderung: Der Brasilianer V. de O. sei ein Opfer „ganz massiver Gewalt“.
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Für V. de O., gelernter Koch, ging das Leben nicht so harmonisch weiter. Seit er auf dem Weg zur Frühschicht in einer Fabrik Marcel B. begegnete, ist er traumatisiert (taz berichtete) und er therapiebedürftig. Er sei Opfer „ganz massiver Gewalt“ geworden, stellte am zweiten Prozesstag der Sachverständige Hans Jürgen Kaatsch klar.
„Das war nicht nur mal eben so ein Wischer“, so der langjährige Direktor der Kieler Rechtsmedizin, der unter anderem an der Budapester Semmelweis-Universität und am Hamburger Asklepios-Campus lehrt. „Das sind Verletzungen, wie wir sie von einem Autounfall oder vom Boxsport kennen“, so Kaatschs Auswertung der röntgenologischen und computertomografischen Aufnahmen.
Neben einem Jochbeinbruch hatte V. de O. eine Augenhöhlenfraktur und Verletzungen im Mundbereich davongetragen, „also unterhalb der Nase, und ohne dass diese dabei beeinträchtigt wurde“, wie Kaatsch präzisierte – womit der Sturz des Opfers als Ursache, anders als seitens polizeilicher ZeugInnen am ersten Prozesstag suggeriert, völlig ausscheide.
Ebenso wenig könne, wie der Angeklagte ursrpünglich in seinem Einsatzbericht behauptet hatte, ein einziger Hieb für die Verletzungen an unterschiedlichen Partien der linken Gesichtshälfte ausgereicht haben. In dieser Frage hatte Marcel B. am Mittwoch vor Gericht, offenbar in Kenntnis eines Vorgutachtens, eingeräumt, dass es eventuell einen zweiten Schlag gegeben haben könnte – während Augenzeugen und V. de B. seit zwei Jahren bei ihrer Darstellung bleiben, dass der Polizist „wie ein Wahnsinniger“ auf sein Opfer eingedroschen habe.
Viel glaubwürdiger hat die Anpassung der eigenen Version an die offenkundigsten forensischen Sachverhalte die Aussage des Marcel B. nicht werden lassen. So empfand Kaatsch auch dessen Behauptung als höchst zweifelhaft, sich weder daran zu erinnern, mit welcher Hand er zugelangt hatte – noch am Folgetag irgendwelche Schmerzen an dieser verspürt zu haben.
Als unwahrscheinlich muss zudem die Darstellung gelten, dass der Beamte sein Gegenüber nur im Rahmen eines Gerangels, im Nahkampf, im Gesicht getroffen hätte: „Hier muss es auch eine Ausholbewegung gegeben haben“, so der Professor. Und als Legende enttarnte er schließlich die Angabe, das Opfer habe nach dem ersten Schlag keine Wirkung gezeigt: „Ich will nicht sagen, das ist zwangsläufig ein Knock-out“, so Kaatsch. „Aber das ist ein akutes Schmerzereignis. Das kann nicht ohne Wirkung bleiben.“
Benommenheit, Taumel und ein Auge, das „unmittelbar nach dem Gewaltereignis zuschwillt“ – damit hätte V. de O. vielleicht umgehen können, wenn er ein durchtrainierter Kampfsportler wäre. Das ist V. de O. aber nicht. Und das lässt auch die für Marcel B. günstigen Aussagen seiner zwei später am Tatort eingetroffenen KollegInnen noch zweifelhafter klingen als zuvor. Anders hingegen die Darstellungen der Augenzeugen.
Zwar finden sich keine Hinweise auf den von ihnen beobachteten Schlaghagel, mit dem der Polizist V. de O. traktiert haben soll, doch das wäre wohl auch gar nicht zu erwarten gewesen: „Die Erstversorgung erfolgt ja nicht unter forensischen Gesichtspunkten“, stellte der Rechtsmediziner klar.
„Bei solchen Verletzungen am Kopf müssen zunächst neurologische Befunde abgeklärt werden“, erläutert er. Kleinere stumpfe Verletzungen am Rumpf oder im Nacken, Prellungen, Quetschungen, Strangulationsmale, Hämatome – Derartiges könne dabei jedoch schnell unter den Tisch fallen, „zumal Herr de O. ja eine dunkle Hautfarbe hat, wo Rötungen und blaue Flecken manchmal schwerer zu erkennen sind“.
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