Proteste nach türkischem Grubenunglück: Erdogans Berater prügelt mit
Ministerpräsident Erdogan relativert die Kastastrophe von Soma als „gewöhnliche Sache“. Und einer seiner Berater greift Demonstranten an.
BERLIN taz | Nach dem Grubenunglück im westtürkischen Soma erschüttern nicht allein die Bilder von geborgenen Leichen und verzweifelten Angehörigen das Land. Für Empörung sorgt zudem ein weiteres Foto. Darauf zu sehen: ein junger Mann in Anzug und Krawatte, der auf eine von zwei Soldaten zu Boden gerissene Person tritt. Der Schläger heißt Yusuf Yerkel, ist 30 Jahre alt, hat im britischen Exeter internationale Beziehungen studiert und ist der jüngste Berater des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Das Foto machte zunächst über Twitter die Runde und wurde am Abend von renommierten oppositionellen Medien wie den Zeitungen Radikal und Cumhuriyet verbreitetet. Ein anderes Fotos zeigt Yerkel am selben Tag im Gefolge des Ministerpräsidenten, die Ähnlichkeit ist evdident. Gegenüber dem türkischsprachigen Dienst der britischen BBC räumte Yerkel am späten Abend ein, die auf diesem Foto gezeigte Person zu sein und kündigte für diesen Donnerstag eine Erklärung an. Auf eine Anfrage der taz hat er bislang nicht reagiert.
Erdogan war bei einem Besuch in der 100.000 Einwohner zählenden Kleinstadt in der Provinz Manisavon von wütenden Bürgern empfangen worden. Die Menschen werfen der Regierung vor, nicht für die Sicherheit am Arbeitsplatz Sorge zu tragen und darum für das Unglück mitverantwortlich zu sein. Für zusätzlichen Unmut sorgte Erdogans Versuch, die Katastrophe von Soma herunterzuspielen: „Das ist eine gewöhnliche Sache“, sagte Erdogan auf einer Pressekonferenz in Soma. Es handle sich um einen „Arbeitsunfall“, wie er nicht nur in Minen vorkomme.
Um die Normalität solcher Grubenunglücke zu unterstreichen, zählte er historische Beispiele aus aller Welt auf – aus dem Europa des 19. Jahrhunderts und dem Asien aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. „Schauen Sie nach Amerika mit seiner ganzen Technologie: 1907, Gasexplosion in zwei verschiedenen Bergwerken, 361 Tote“, sagte Erdogan.
Die beiden jüngsten Fälle, auf die er verwies, waren Katastrophen in Indien im Jahr 1975 und im nordwesttürkischen Zonguldak im Jahr 1992, wo 263 Menschen ums Leben kamen – bis zum Dienstagabend das schwerste Grubenunglück in der türkischen Geschichte.
Erdogan flieht in Supermarkt
Wohl auch deshalb wurde Erdogan bei seinem anschließendem Rundgang durch Soma von wütenden Bürgern ausgebuht, die seinen Rücktritt forderten. Obwohl er durch zwei von Soldaten und Polizisten gebildeten Reihen von der aufgebrachten Menge abgeschirmt war, kam es zu tumultartigen Szenen. Erdogan suchte zwischendurch Zuflucht in einem Supermarkt, bei seiner Abfahrt aus Soma traten wütende Bürger gegen sein Auto. Einige Demonstranten wurden festgenommen, die Aufnahme von Erdogan-Berater Yerkel entstand offenbar in dieser Situation.
Am Abend kam es in zahlreichen türkischen Städten zu Demonstrationen. In Ankara und Istanbul ging die Polizei mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen gegen die Demonstranten vor, von denen einige Feuerwerkskörper in Richtung der Polizei schossen. „Kein Unfall, sondern Mord“, skandierten die Demonstranten.
In der Türkei sind tödliche Arbeitsunfälle tatsächlich nichts Ungewöhnliches, allein im vergangenen Jahr sollen dabei 1.235 Menschen ums Leben gekommen sein. Wegen wiederholter Unfälle hatte erst Ende April ein Abgeordneter der oppositionellen CHP gefordert, die Verhältnisse im Bergwerk von Soma untersuchen zu lassen, was von der AKP-Fraktion abgelehnt wurde.
Für den Donnerstag haben mehrere Gewerkschaftsverbände zum Streik aufgerufen. Energieminister Taner Yildiz zufolge ist die Zahl der Toten auf 282 gestiegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Ärzteschaft in Deutschland
Die Götter in Weiß und ihre Lobby
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid