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Proteste in SpanienDer stumme Schrei eines Landes

"Echte Demokratie jetzt!": Den Versammlungsverboten zum Trotz sind in Spaniens Städten erneut zehntausende Menschen zusammengekommen.

Unüberschaubar und doch klar: Protest in Madrid. Bild: reuters

MADRID taz | Es war der Moment, auf den ein ganzes Land gewartet hatte: Samstag 0:00 Uhr, der "Tag des Nachdenkens", den das spanische Wahlgesetz vor dem heutigen Regional- und Kommunalwahlen vorsieht, begann.

Alle politischen Kundgebungen sind per Beschluss der Wahlkommission verboten. Überall in Spanien versammelten sich dennoch Zehntausende von Menschen auf den Protestkundgebungen und in den Camps der Jugendbewegung unter dem Motto "Echte Demokratie jetzt!". Alleine in Madrid waren weit über 30.000 zum zentralen Platz Puerta de Sol gekommen. Viele verklebten sich Punkt Mitternacht den Mund.

Der "stumme Schrei" – wie die Schweigeminute getauft wurde – endete in einem "Das Vereinte Volk wird niemals besiegt werden!" Auf die Fassade der Madrider Regionalregierung wurde in mehreren Sprachen das Wort "Unidad" – "Einheit" - projiziert. Die Spanish Revolution, wie sich die Facebook-Mobilisierung nennt, postuliert ihren globalen Anspruch. In knapp 300 Städten – selbst im Ausland – halten die Versammlungen das ganze Wochenende über an. Die Polizei lässt sie gewähren.

REINER WANDLER ist Spanien-Korrespondent der taz und betreibt selbst einen Bilder-Blog über die Proteste in Madrid.

"Es ist nicht unsere Krise"

Im öffentlichen Radio 5 war um Mitternacht Nervosität zu spüren. "Es ist das erste Mal, dass der Tag des Nachdenkens nicht respektiert wird", sagt die Moderatorin zu ihren Gästen, einem ausländischen und einem spanischen Journalisten, bevor das Mirko aufgeht, um die Aktualität der Woche zu analysieren. Ob dies gut ist oder schlecht, es ist vor allem ungewohnt, in einem Land in dem viele noch den schwierigen Übergang zur Demokratie und die seither geltenden Tabus präsent haben. "Wir dürfen auf keinen Fall über Parteien und ihre Programme reden", warnt die Moderatorin noch.

Um konkrete Wahlaussagen ging es dann auch nicht, aber um die Empörung der Jugendlichen auf den Plätzen schon. "Es ist nicht unsere Krise, aber wir sollen sie bezahlen", "Schluss mit der Korruption und der Arbeitslosigkeit", ein "Wahlgesetz, das auch für kleine Parteien gerecht ist", heißen nur einige der Themen, die von den jungen Menschen diskutiert werden.

Die Krise hat das Land, aus dem zehnjährigen Boom, der durch eine Spekulationsblase im Baugewerbe ausgelöst wurde, gerissen. Die Spanier erwachten im Sozialabbau mit gleichzeitigen Steuerkürzungen. Mit Gehaltskürzungen im Öffentlichen Dienst, dem Abbau von Sozialleistungen aller Art sowie der Privatisierung der letzten rentablen Staatsunternehmen versuchen die Sozialisten unter Premier José Luis Rodríguez Zapatero den Druck der Finanzmärkte von Spanien zu nehmen. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 20 Prozent, bei den jungen Menschen auf den doppelten Wert.

Menschen aller Altersgruppen und Herkunft

Es wurde viel geredet über die "verlorene Generation", die sich dennoch nicht wehrt. Seit am vergangenen Sonntag 130.000 "Empörte" in über 60 Städten auf die Straße gingen, redet Spanien wieder über Politik. "Es ist ein historischer Augenblick", lautet der der wohl am meisten wiederholte Satz auf der Puerta de Sol. In Madrid herrschte das ganze Wochenende über friedliche Feststimmung.

Der Aufruf der ständigen Camp-Versammlung den Anlass nicht zum sonst unter den Jugendlichen so beliebten öffentlichen Massenbesäufnis ausarten zu lassen, wurde befolgt. Überall versammelten sich kleinere und größere Gruppen und diskutierten über Bildungspolitik, Beschäftigungslage und politische Reformen. Andere hielten ständig den Platz sauber oder gaben Essen aus und kontrollierten den Verkehr. Viele waren zum ersten Mal auf einer politischen Kundgebung.

Es sind Menschen aller Altersgruppen und Herkunft. Ganze Familien nutzen den Wochenendspaziergang, um an der Puerta de Sol vorbeizuschauen. "Kollektives Nachdenken" nennen die Rechtsanwälte der Protestierenden das, was die Camps ausgelöst haben, um formaljuristisch das Kundgebungsverbot zu umgehen. "Endlich regt sich was", erklärt eine Rentnerin, die lange ihr Geld als Migrantin in Deutschland verdienen musste. Sie will heute Zapateros PSOE wählen.

"Es war an der Zeit, das die Jugend aufwacht", schließt sich ein anderer Rentner dem an, auch er will seine Stimme abgeben, für die konservative Partido Popular. In einem sind sich beide einig: "Die Banken haben die Schuld!" Die Camp-Versammlung hat derweilen beschlossen auch nach dem heutigen Wahltag weiterzumachen. "Bis wann, das wissen wir noch nicht. Das wird der Lauf der Diskussionen ergeben", erklärt eine 30-Jährige, die der Pressestelle des Camps angehört.

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8 Kommentare

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  • E
    Eric
  • T
    txxx666

    Es ist hohe Zeit!

    In Spanien demonstriert die Jugend massenhaft und friedlich gegen den real-existierenden Kapitalismus - und wann kommen wir saturierten Teutonen endlich aus dem Schneckenhaus?

    http://misanthrope.blogger.de/stories/1828058/

  • R
    reni

    Es gibt viele Parallelen, aber auch einige Unterschiede zwischen den Situationen in Spanien und Deutschland.

     

    Die zentrale Forderung "ECHTE Demokratie JETZT" ist genauso auf Deutschland anwendbar. Von der fehlenden demokratischen Legitimation des Grundgesetzes (und damit genaugenommen auch der darin definierten Institutionen) über mangelnde Mitbestimmungsmöglichkeiten für die Bevölkerung und der Quasi-Gleichschaltung der Medien durch die etablierten Parteien liegt hier noch allerhand im Argen, und im Staat-zur-Beute-machen stehen sich Politik und Wirtschaft in nichts nach, im Gegenteil, ergänzen sich dabei.

     

    Andererseits laufen hier mit der Energiewende und in der Netzpolitik bereits größere Kampagnen, die Aufmerksamkeit und Einsatz brauchen, vermutlich ist es besser, diese Themen erst rund zu machen und dann zu den nächsten überzugehen. Zumindest solange die Situation nicht völlig unerträglich ist - hier sehe ich einen Unterschied zu Spanien.

  • S
    Saalko

    Ach auf Deutschland wird es nicht umschlagen (Umfrage).

     

    Hier wird ja schon wieder demonstriert. Und durch die scheinbare übermacht der Grünen. Wird gezeigt, dass es so nicht weitergehen kann, wie es im Moment läuft.

     

    In Deutschland bewegt sich auch schon was. Nur ist es keine große Revolution mehr.

  • R
    Renegade

    Zum Glück sind nur die Banken Schuld, nicht etwa die EU, die auch haufenweise Geld in sinnlose Straßenbauprojekte gesteckt hat... aber die haben sicherlich mit dem künstlichen Bauboom nichts zu tun.

  • E
    Eric

    hier ein artikel eines Bekannten der aktiv in den Protesten teilnimmt,

     

    Dear friends who do not live in Spain:

     

    I hope you have read, or watched some videos, on what is happening since last Sunday in my country.

    From inside this "Spanish Revolution" I rejoice at the big amount of people that came together to shout their demands, in an extremely pacific way, fed up with how the system (the whole system) works.

    Some media here called us, from the very first moment, anti-system. It is through manifestos, through facebook comments, through e-mails and face to face explanations that we try to call ourselves "alter-systems",

    and correct some of the ideas they are trying to relate this social movement with: many of our politicians and much of our press say we don't have any new ideas, that these are not practical nor feasible, that we don't believe in politics or in democracy, that this movement will die just after the regional elections this Sunday.

     

    I invite you to get closer to our movement because, although many of our demands do deal with some specifics of Spanish politics,

    most of them make sense in any of the countries surrounding us -this is, in a global world, all of them-, and our message is meaningful from Portugal to China, from Germany to Peru (just random examples, really).

    As a matter of fact, our assembly received support today from a league of young Egyptians, and what's happening in Spain is understood by us as not so separated from the recent Arab revolts.

    We looked amazed at them, and wondered why we weren't to do as them, do we really live in the best of worlds?

     

    We saw ourselves, our demonstrations, first in The Washington Post. It took 2 days to the Spanish press to react and start informing about what was happening in our streets, in many plazas (squares), and most of the information usually included opinions on how weak or empty of content our message was. Lately, they are showing a great interest, unable to hide it anymore, so that not even Strauss-Kahn's affair has provoked so many words (on the posters, on the plazas, you can read "Strauss-Kahn's in prison, we are in the streets!"). But we still need to say in every assembly (in every street meeting, where we, literally thousands of us, share our ideas and vote on them) that we do believe in politics, but not in our politicians, that is not that we don't believe in democracy, but that we want to improve it, making our politicians responsible for their acts, making them having to ask the people on important matters (through referendums), and deciding because of our will, not following any bankers' (and the markets!) plans.

     

    In the same way that our press tried to hide the reality of the situation, the international press is covering the news from a somewhat biased point of view, if they're not openly withholding information (i find that the German press is being particularly low-key about the subject). In the same way Tunsia's revolts jumped to other countries within the region, Spain's revolution can easily jump to the rest of the state-of-the-art, first world "democracies".

     

    So i think both things come together: reading international press, I have found that they all say that only young spaniards are protesting mainly in Madrid because of unemployment, never forgetting to highlight the fact that Spain's unemployment rate is the highest within Europe, as a way to let you all know that this a "Spanish problem".

     

    It is a lie. Or rather, various lies. In all protests, assemblies, and sit-ins, there are a wide array of ages, and everybody is welcome. Demonstrations and campsites are happening all across the country in hundreds of cities and towns. At the demonstrations this past Sunday (and in the plazas), messages regarding unemployment were the least present, messages demanded above all "una Democracia Real Ya", "A Real Democracy Now", and a lot of messages implied how to achieve just that: jobs and better conditions for people, stronger social structures and supports should come from that, from a real and renewed democracy. we demand a change of the system that makes it impossible for a our so-called leaders to make promises they don't keep at the expense of the people; all this while they rob us in front of our faces, giving money to banks, while cutting money destined for our pensions, social welfare, public schools, etc. Unemployment and corruption are 2 strong issues, but only 2 among many (for example, in today's manifesto, several demands were made: immediate closure of all arms factories, nuclear plants and of all Foreign Internment Centers in Spain -holding cells for illegal immigrants who find themselves in a legal limbo)

     

    This is the main website of the movement, http://madrid.tomalaplaza.net/ and here you can find all the information about it, including manifestos ( http://madrid.tomalaplaza.net/category/manifiesto/page/2/'>http://madrid.tomalaplaza.net/category/manifiesto/page/2/ and http://madrid.tomalaplaza.net/category/manifiesto/ ) and the real demands we are making. the assemblies have decided to post this information in a wide variety of languages including English and Esperanto. Some photos and press articles linked below as well.

     

    In Italy they've already started the Democrazia Reale Ora movement, and started taking the streets, and in many European and world cities, Spaniards are demonstrating, GO JOIN THEM!

     

    Please follow the thing on facebook and twiter, circulate this email and the links, and get really informed (also remember that Berlusconi has shares in El País, which is associated with Le Monde, Die Spiegel, The Guardian, and the New York Times).

     

    Photos:

    http://www.theatlantic.com/infocus/2011/05/a-defiant-spanish-revolution/100070/

    http://www.facebook.com/italianrevolution

    http://www.facebook.com/SpanishRevolution

    http://forozona.com/anonymous/4955-15-de-mayo-toma-calle-democracia-real-ya.html

    http://www.youtube.com/watch?v=4lWYhFmUMo0

    http://www.publico.es/espana/377486/carteles-consensuados-de-los-indignados-en-sol/slideshow#7

     

     

     

    Press Articles:

    http://www.washingtonpost.com/business/tens-of-thousands-march-in-spain-to-protest-against-austerity-measures-banks-politicians/2011/05/15/AF13OH4G_story.html

    http://www.washingtonpost.com/blogs/blogpost/post/spainish-demonstrations-continue-around-country-for-fourth-day/2011/05/19/AFbBUC7G_blog.html

    http://www.bbc.co.uk/news/world-europe-13466977

    http://english.aljazeera.net/news/europe/2011/05/2011520235739526434.html

    http://www.lemonde.fr/europe/article/2011/05/20/espagne-la-contestation-prend-de-l-ampleur-malgre-l-interdiction-de-manifester_1525269_3214.html

     

     

    Love, Besos, and Thank You

  • B
    borgdrone

    Hier sitzen die alten Helden und sehen sich das Ende der Welt an. http://waschtrommler.org/2011/05/22/weltuntergang-und-der-beginn-einer-neuen-welt/

  • L
    Lutz

    "Es ist nicht unsere Krise", das ist wohl der entscheidende Satz, der auch hier gilt. Hier hieß es: Wir bezahlen eure Krise nicht -oder so ähnlich.

    Auch hier gibt es die Jugend, die Generation, von Praktikanten und prekärere Beschäftigung. Auch hier wird die Krise von den Kleinen Leuten bezahlt. Aber die Bewegung wird nicht überschwappen. Denn man bläut uns den XXL Auschwung ein, das vermeintlich höchste Wirstschaftswachstum, niedrige Arbeitslosigkeit und malt das Bild der Wachstumslokomotive Deutschland. Und wem es dann wirklich doch noch dreckig geht, wer dennoch kaum über die Runden kommt, der darf mit Dr. Kanzlerin Segen auf die Griechen schimpfen.

    Eine Fatamogane, de man glaubt, da man sie ständig hört und einen zum Treten: mehr braucht's nicht, die Deutsche Seele ruhig zu halten.