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Proteste in GriechenlandNachhilfeschüler Staat

Wer verstehen will, warum die Jugend in Griechenland aufschreit, muss sich nur das marode Bildungssystem des Landes ansehen. Ohne Privatschulen geht gar nichts.

Anarcho-Graffiti an der Athener Uni - von dort nahmen Proteste in Griechenland oft ihren Lauf. Bild: ap

Der Ort ist wichtig. Das Exarchia-Viertel in Athen hat sich auch deshalb zum Zentrum rebellischer Aktivitäten entwickelt, weil die Technische Universität gleich um die Ecke liegt.

TODESSCHUSS: UNTERSUCHUNGSBERICHT LÄSST AUF SICH WARTEN

Knapp eine Woche nach dem Tod eines Jugendlichen durch eine Polizeikugel in Athen sind in Griechenland am Freitag erneut hunderte Schüler auf die Straßen gegangen. In Athen blockierten Schüler vier wichtige Kreuzungen rund um die Innenstadt. Andere besetzten vorübergehend einen kleinen Athener Nachrichtensender und sendeten Parolen gegen die Staatsgewalt. Die Besetzung endete nach Angaben des Senders nach etwa einer Stunde friedlich. Auch in der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki versammelten sich mehrere hundert Studenten und Schüler zu einem Protest.

Das mit Spannung erwartete Ergebnis der ballistischen Untersuchung im Fall des am letzten Samstag von einem Polizisten getöteten Schülers könnte erst nächste Woche vorliegen, berichtete das griechische Fernsehen. Weitere Untersuchungen seien notwendig, hieß es. Das Ergebnis gilt als wichtig, weil damit geklärt werden soll, ob der Polizist direkt auf den 15-jährigen Alexandros Grigoropoulos geschossen hat oder ob der Junge durch einen Querschläger starb. Der gewaltsame Tod des Schülers hatte die mehrtägigen Unruhen und Ausschreitungen in Athen und anderen griechischen Städten ausgelöst.

Der Polizist und sein Kollege, dem Beihilfe zum Totschlag vorgeworfen wird, wurden am Freitag in ein nicht genanntes Gefängnis in der Provinz gebracht, berichtete das Staatsradio. Damit sollen Proteste vor dem Hochsicherheitsgefängnis von Korydallos nahe Piräus, wo die beiden bislang in Untersuchungshaft saßen, verhindert werden. Unterdessen erklärte der für die Polizei zuständige griechische Staatssekretär Panagiotis Hinofotis, die Regierung plane eine Reform der Polizei. "Wir überlegen uns, wer unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen künftig eine Waffe tragen wird", sagte er im Rundfunk. Der 37-jährige Polizist soll laut Augenzeugenberichten zum Zeitpunkt, als der Todesschuss fiel, "völlig außer Kontrolle und extrem wütend" gewesen sein. DPA

Das Polytechnion spielt in der Geschichte der griechischen Linken und insbesondere der Studentenbewegung eine fast mythische Rolle. Von hier ging im November 1973 der Studentenaufstand aus, der die Herrschaft der Obristenjunta, die seit April 1967 das Land kujonierte, zum ersten und einzigen Mal ernsthaft in Bedrängnis brachte.

Der Aufstand wurde am 17. November von Panzern erdrückt. Es war der Auftakt zur letzten Phase der Militärdiktatur. Die endete erst mit dem Zyperndebakel vom Juli 1974, mit dem sich die Junta das eigene Grab schaufelte. Die Diktatur wurde also nicht gestürzt, die meisten Griechen haben sie bis zum Schluss erduldet.

Das symbolische Datum wurde von der politischen Klasse stets missbraucht und auch von der Linken schief gedeutet. Politiker aller Richtungen halten alljährlich Reden, die so klingen, als wären sie dabei gewesen. Und das Gedenken der außerparlamentarischen Linken fällt häufig so triumphal aus, als hätten die ermordeten Studenten damals die Junta besiegt.

Was fehlt, ist die gemeinsame Trauer über die Vergeblichkeit des Aufstands und die Passivität der Gesellschaft. Was immerhin bleibt, ist ein vages schlechtes Gewissen, das sich aber nur indirekt ausdrückte. Zum Beispiel in der klammheimlichen Sympathie von vielen, die den Mut zum Widerstand nicht gehabt hatten, mit der Gruppe, die sich "17. November" nannte. Diese jungen Leute begannen als Racheengel des Widerstandes, die tatsächliche oder vermeintliche an der Diktatur Schuldige "hinrichteten", und endeten als Terroristen, die blindlings zum Feind erklärte Individuen ermordeten und der griechischen Polizei den Ruf verschafften, die unfähigste in Europa zu sein.

Die Häme über die Unfähigkeit der eigenen Polizei ist in Griechenland weit verbreitet. Da der Polizist dem Bürger fast nie als "Freund" und selten als "Helfer" begegnet, ist er nur der uniformierte Repräsentant eines Staates, gegen den man grundsätzliches Misstrauen hegt. Dieser Grundzug prägt das Verhältnis von Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Ohne das zu wissen, versteht man nicht, was in Griechenland in der letzten Woche abgelaufen ist.

Dieses Misstrauen rührt daher, dass sich ein "Bürgerstaat" nie entwickelt hat, der wiederum Voraussetzung für den Abbau dieses Misstrauen wäre. Der Staat wird als korrupt erlebt, als "Beute der Politiker". Deshalb schuldet man ihm nichts, vor allem kein Geld. Steuerhinterziehung ist in Griechenland nicht nur weiter verbreitet als in anderen europäischen Ländern, sie gilt auch als Recht, das man sich ohne schlechtes Gewissen nimmt.

Dass der Staat ohne ausreichende finanzielle Mittel dem Bürger keine vernünftigen Dienste bietet, bestätigt nur das Urteil über den Staat schlechthin. Dass unterbezahlte Staatsbedienstete für Korruption anfällig sind, wird kollektiv beklagt, individuell aber ungerührt ausgenutzt, um sich einen Vorteil gegenüber den Mitbürgern zu verschaffen. Und doch ist es nach wie vor der große Kleinbürgertraum, mithilfe von persönlichen "Beziehungen" die eigenen Kinder im Staatsdienst unterzubringen, wo sie immerhin einen Pensionsanspruch haben.

Die Bürger haben den Staat und die politische Klasse, die sie verdienen und umgekehrt. Dabei ist das Ressentiment der "kleinen Leute" überaus verständlich, denn von ihrem Geld wird der Staat großenteils finanziert. In Griechenland werden nur Lohnabhängige und Rentner steuerlich streng erfasst. Deshalb treten sie der "Allgemeinheit" prozentual weit mehr von ihrem Einkommen ab als Unternehmer und Freiberufler. Die kommen beim Finanzamt mit fiktiven Einkommensangaben davon, die meist nur einem Bruchteil der realen Bezüge entsprechen.

Dass der unterfinanzierte und korruptionsanfällige Staat keine vernünftigen Leistungen erbringen kann, hat seit einigen Jahren fatale Folgen in den Bereichen, die für die Zukunft entscheidend sind. Vor allem im Bildungswesen, wo Griechenland laut Unesco-Rangliste am schlechtesten von allen EU-Mitgliedsländer abschneidet. Unterbezahlte und schlecht qualifizierte Lehrer sorgen dafür, dass jeder Schüler, der einen Studienplatz ergattern will, eine zweite, private Schule absolvieren muss. Über 90 Prozent aller griechischen Schulabsolventen haben das "Frontistirio" besucht, in dem sie jeden Nachmittag das Pensum pauken, das ihnen der staatliche Unterricht am Morgen nicht vermittelt.

Der Aberwitz des griechischen Erziehungswesens lässt sich an diesem System am besten zeigen. Das Frontistirio verzehrt einen guten Teil der Familieneinkommen für eine Leistung, die inzwischen keinen Ertrag mehr verspricht. Selbst wenn der Sohn oder die Tochter - unter Einsatz von mindestens 10.000 Euro - die Universitätseingangsprüfungen besteht und ein Studium absolviert, sind die Berufsaussichten bescheiden. Auf jeden Fall schlechter als die von Absolventen, deren Eltern noch mehr Geld aufgewendet haben, um ein Auslandsstudium zu finanzieren.

Dabei wäre der Prozentsatz arbeitsloser Uniabsolventen, der heute bei 25 Prozent liegt, noch viel höher, wenn es nicht die Frontistiria gäbe. Bei den Privatschulen sind heute mehr examinierte Lehrer angestellt als im staatlichen Schulwesen. Jeder Bildungsminister, der durch eine tiefgreifende Schulreform die Nachhilfeklitschen überflüssig machen wollte, würde damit die Arbeitslosigkeit der Akademiker drastisch verschärfen. Dieser tödliche Zirkel ist inzwischen ein Strukturmerkmal des griechischen Bildungssystems.

Die Misere war in der letzten Generation noch notdürftig zu verdecken. Ein studierter Lehrer bediente zwei oder drei private Jobs, die Architektin arbeitete rund um die Uhr. Und Gehaltslücken wurden durch andere Einkommensquellen kompensiert: Mieteinnahmen aus einer von den Eltern finanzierten Eigentumswohnung oder ein Sonderzuschuss, wenn der Opa auf dem Dorf einen Bauplatz verkaufen konnte. Doch dieses Modell der Vermögensübertragung beginnt sich zu erschöpfen, denn irgendwann ist das Familiensilber verteilt. Und die Wirtschaftskrise, die am Horizont aufzieht, trifft auch die Immobilienbranche und damit die wichtigste kompensatorische Einkommensquelle.

Deshalb muss jede griechische Familie den Mangel an beruflichen Chancen ihrer Kinder heute viel ernster nehmen als noch vor fünf Jahren. Damit ist der Generationenvertrag für beide Vertragspartner heute ein höchst prekäres Gebilde: Wenn die Kinder keinen Beruf finden, der sie satt ernährt, können sie nur schwer die Eltern im Alter unterstützen, was in Griechenland heute noch erwartet wird.

Die Versorgung der Alten ist längst das zweite große Zukunftsthema geworden. Auch die langfristige Finanzierung der (bescheidenen) staatlichen und der Berufsrenten ist langfristig nicht gesichert. Die Generalstreiks und Demonstrationen der Gewerkschaften der letzten Monate galten vor allem der Forderung, die Rentenkassen durch Zuschüsse aus dem Steueraufkommen zu sanieren.

Das große Versagen der griechischen Politik besteht in dem Versäumnis, an einem Entwicklungsmodell zu arbeiten, das neue Arbeitschancen bietet und zugleich die sozialen Sicherungssysteme stabilisiert. An dieser Aufgabe haben alle Regierungen der letzten 30 Jahre versagt, ob von der konservativen ND gestellt oder von der Pasok. Und dies trotz der gewaltigen Subventionssummen, die Griechenland seit 1981 aus den Stützungs- und Transferprogrammen der EU bezogen hat.

Die zig Milliarden aus Brüssel flossen letztlich in den Konsum, statt den Umbau der Wirtschaft voranzutreiben. Ein Beispiel: Während inzwischen fast jede zweite Athener Familie eine Ferienwohnung hat, gibt es immer noch keine schnelle Eisenbahnverbindung zwischen den beiden Wirtschaftsmetropolen Athen und Thessaloniki. Und der Ausbau alternativer Energien, der die Braunkohlekraftwerke - Europas größte Umweltverschmutzer - ersetzen könnte, wurde nie systematisch vorangetrieben.

Zudem dienten die EU-Milliarden der Querfinanzierung eines Militärhaushalts, der pro Kopf weit mehr Geld verschlingt als in allen anderen EU-Mitgliedsländern. Auch diese Politik, die in dem national stets hoch gestimmten Land von keiner Partei infrage gestellt wird, hat dazu beigetragen, dass die Regierung Karamanlis mit leeren Händen dasteht. Und das angesichts einer Krise der Realwirtschaft, die bereits begonnen hat.

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9 Kommentare

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  • S
    Stefanos

    @Νiels Kadritzke, @Tazredaktion.

     

    Seit mehrere Jahren fuehtt die Taz einen ungeklaerten Kampf gegen Hellas.

     

    Das hellenische Volk hat die Machschaften deutscher Firmen (Hochtief, Siemens und Firmen der deutschen Waffenindustrie) mit griechischen korrupten Politiker sehr teuer bezahlt. Vermittler dabei soll eigentlich die deutsche Botschaft in Athen sein.

     

    Die Infrasruktur in Hellas ist die letzte Jahren rapid entwickelt. Natuerlich muss man schoen noch eine Menge tun. Aber der Grund warum speziell die Reisebahn nicht modernisiert wurde, hat mit der Privatisierungspolitik der konservativen Regierung zu tun d.h. das Konsorzium, das die hellenische Bahn uebernehmen soll, soll sie auch modernisieren.

     

    Die Hellenen sind nicht mehr oder weniger national gestimmt als Franzoesen, Deutschen, Italienern, Englaender u.s.w. Vorallem die hellenische Jugend, also die Zukunft dieses Landes, wiederspricht Ihnen Herr Katritzke.

     

    Hellas liegt in einer der gefaehrlischten Regionen der Welt und die Aufruestung des Landes kommt der deutschen Waffenindustrie sehr gelegen.

    Um glaubwuerdig zu wirken, muss man also zuerst die Kritik auf seiner eigenen Regierung ausueben.

  • D
    Dorothea

    @Gast (makedonski)

     

    Hier ist kein Platz fuer ultranationalistische Fyrom-Bulgarische Propaganda.

    Beschaeftige dich lieber mit den riesigen Problemen deines Landes.

    Monatslohn 80 Euro, Arbeitslosigkeit 40%, Inflation 15% u.s.w. Du hast viel zu tun in deinem eigenen Land: Fyrom.

     

    Man waere gluecklich wenn die fyrom-bulgarische Jugend wie die hellenische Jugend in Athen reagieren koennte. Aber in Skopje ist die jugend ultranationolastisch orientiert.

     

    Hellas ist mit weinten Abstand das demokratischte Land in der Region.

     

    Hoer endlich auf, Hellas in jedem Forum mit deinem ultra nationalistischen Motivation zu diskriminieren.

     

    Es reicht.

  • P
    panka

    @

    In Deutschland ist sicherlich der Polizist ein Diener des Volkes. Sicher!!!!. Eine ganz "demokratische" These der CDU.

     

    Nur wenn das, was in Athen die letzten Tagen passierte, in Deutschland stattfefunden waere, waeren heute hunderten von Menschen in den "weissen Zellen" eingeschlossen.

  • MD
    Memed Deniz

    Wenns so ist, dann tun die Jungs ja genau das Richtige. Die ganzen Politiker abschieben, das Militär und Politzeiapparat abschaffen und dann gucken wie es weiter geht. Also die werden nicht schlechter da stehen als heute, wenn man/frau dieser Artikel liesst. Oder?

  • G
    Gabi

    Tja, eben...; "Griechenland ist da, wo wir noch hin"wollen" ( "wollten"?)!

     

    Angebotsorientierter "Glaube" a´la Milton Friedman!

    Wie?

    Den will heute keiner mehr kennen??

    Na, so was aber auch!

  • G
    gast

    Tja, anstatt sich mit Mazedonien zu befassen und dem Nachbarn das Recht auf den Namen abzusprechen, sollte die Wiege der Demokratie damit beginnen, die eigenen Probleme im Land zu lösen. Wiedermal versucht eine Regierung durch das Schüren von Nationalismus von den eigenen Problemen abzulenken.

  • R
    rob

    sehr guter artikel.

  • R
    ronja

    Ich will ja nicht besserwisserisch sein, aber was mir eine griechische Studentin mal erzählt hat, da ist das griechische Schul- / Ausbildungs- / Hochschulsystem offenbar noch viel schlechter, als das deutsche, welches mir aber wiederum schlechter vorkommt, als z.B. das schwedische und norwegische - was sicher vielerlei Ursachen hat.

     

    Was mich übrigens ankotzt, sind die dummen Fehlschlüsse von Leuten, die meinen, alles was staatlich ist, muss gemäß eines Naturgesetzes schlechter sein, als alles, was privat ist. Privatschulen sind eine Notlösung, wo der Staat versagt, aber aus der Not sollte man keine Tugend machen. Bildung ist weitgehend eine öffentliche Angelegenheit, schon allein deshalb, weil eine Demokratie politisch kompetente BürgerInnen braucht und diese brauchen bestimmte Formen der Bildung, um politisch kompetent, sprich: in diesem Sinne "mündig" zu sein.

     

    Die in letzten Jahren in weiten Teilen des Volkes zunehmende Armut in Griechenland hat aber, so wie ich es sehe, nicht nur mit Bildung zu tun, sondern auch mit dem, was wir heute Globalisierung nennen.

    Vieles, was früher in Griechenland hergestellt wurde, wird heute billiger anderswo hergestellt, oder mit weniger Arbeitszeitaufwand (Rationalisierung), oder beides. Die schon erwähnte Studentin meinte das übrigens ebenfalls, und nannte mir v.a. Beispiele aus der Landwirtschaft, aber es gibt sicher noch viele andere Beispiele. Das beste Buch zu diesem Thema, das ich bisher gelesen habe, scheint leider vergriffen, aber manche Bib. hat es sicher: Gero Jenner : Die arbeitslose Gesellschaft . Ein Freund hatte mir das empfohlen und es lässt sich wirklich unglaublich gut bis heute anwenden, auch auf Griechenland.

     

    Was Bildung, speziell Berufsausbildung angeht, könnte Griechenland so eine Art von " Green New Deal " starten (mit dem wohl absehbaren Regierungswechsel) und v.a. Solaranlagen für Dächer herstellen und installieren (Warmwasserkollektoren und Fotovoltaikanlagen), auch Windräder, und mit beiden zusammen könnte Griechenland - sogar wenn Kfz weitgehend von Verbrennungs- auf Elektro-Motoren umsteigen - schon in weniger als 10 oder 12 Jahren mehr als den ganzen Eigenbedarf an Elektrizität erzeugen und Strom exportieren. So könnten viele Arbeits- und Ausbildungsplätze entstehen.

  • WL
    Werner Lorenzen-Pranger

    ...auch nicht viel anders als hier!