Proteste in Berlin: Heraus zum 1. Mai?
Demonstrieren bringt doch eh nichts, finden die einen. Andere wollen nun zum ersten Mal dabei sein. Fünf Protokolle aus Berlin anläßlich des 1. Mai.
„Flaschen bringen mir mehr“
Thomas, 39, geht seit Jahren nicht mehr zum 1. Mai:
„Früher bin ich immer demonstrieren gegangen. Das hat mir nichts gebracht und wird mir auch nichts mehr bringen. Die Löhne und die Lebensumstände werden eh nur noch schlimmer. Deswegen gehe ich seit vier, fünf Jahren nicht mehr raus zum 1. Mai. Ich bin gelernter Kraftfahrer, ich habe seit Langem keine Arbeit. Die einzigen Angebote, die ich bekomme, sind von Zeitarbeitsfirmen, und die bieten immer ganz schlechte Löhne an.“
„Zum Teil weniger als die Hälfte vom Tarif. Darum lebe ich mit Harz IV. Ich habe auch ein Kind. Das ist zwar volljährig, aber es braucht immer wieder auch Hilfe – das ist ja auch normal. Wenn ich ihm aber etwas geben will, muss ich schauen, wie ich das hinkriegen kann. Deshalb sammle ich Pfandflaschen, das ist mein kleiner zusätzlicher Verdienst. Ich bin jeden Tag unterwegs, in gehe durch die ganze Stadt. Oft reicht es für ein Päckchen Tabak, manchmal sogar für etwas zum Essen. Die Pfandflaschen bringen mir mehr als eine sinnlose Demonstration.“
„Das ist mir viel zu gefährlich“
Anja, 57, hätte gern eine Arbeit, von der sie leben kann:
Die Tradition: Der 1. Mai ist seit 25 Jahren in Berlin Rangeltag zwischen linken Demonstranten und der Polizei. 1987 hatte die Polizei ein Straßenfest in Kreuzberg attackiert, was zu einer Straßenschlacht führte. Seither kam es in allen Jahren zu mehr oder weniger heftigen Ausschreitungen.
Die Demos: In diesem Jahr gibt es zwei Neuerungen. Zum Auftakt in der Walpurgisnacht am 30. April rufen linke Gruppierungen nicht mehr in den längst aufgewerteten Stadtteil Friedrichshain, sondern erstmals in den Berliner Bezirk Wedding, um gegen die befürchtete Gentrifizierung dieses Stadtviertels zu demonstrieren. Und die revolutionäre Demonstration am 1. Mai soll diesmal aus dem Kreuzberger Kiez raus ins Regierungsviertel nach Berlin-Mitte führen.
Der taz-Liveticker: Die taz berichtet aktuell an beiden Tagen im Liveticker auf taz.de.
„Ich bin Reinigungskraft und arbeite auf halber Stelle für 400 Euro im Monat. Meine drei erwachsenen Kinder brauchen meine Unterstützung: Ein Sohn ist Epileptiker, der andere ist wegen eines Bandscheibenvorfalls arbeitsunfähig. Meine Tochter hat selbst schon zwei Kinder, sodass ich häufig meine Enkelkinder versorge. Am 1. Mai gehe ich auch zu ihnen.“
„Wozu sollte ich demonstrieren? Das ist mir heute viel zu gefährlich. Vor der Wende war ich ab und zu auf Demos. Aber seit dem Mauerfall macht die Politik sowieso, was sie will. Sie sollten bessere Bedingungen schaffen. Ich müsste im Monat auf 1.000 Euro kommen, damit ich über die Runden komme.“
„Wenn ich noch eine zweite halbe Stelle annehmen würde, müsste ich für mein Sozialticket doppelt so viel bezahlen wie jetzt und würde letztlich nicht mehr Geld bekommen. Um mehr in der Tasche zu haben als momentan, bräuchte ich eineinhalb Stellen – das geht in meinem Alter aber nicht. Ich möchte eine Arbeit, von der ich leben kann. Der 1. Mai bringt sie mir bestimmt nicht.“
„Das betrifft uns“
Herr B. geht zum ersten Mal auf die Demo – gegen die Gentrifizierung:
„Ich lebe seit 15 Jahren mit meiner Frau und unseren vier Kindern in Schöneberg. 2004 habe ich den Job verloren. Das Jobcenter sagt, unsere Miete sei zu hoch. Seit 2008 zahlt es nur noch 755 Euro, fast 500 Euro zu wenig. Bisher konnte ich das fehlende Geld mit einem Nebenjob aufbringen. Ich habe Krebs, kann ohnehin nicht mehr als vier Stunden am Tag arbeiten. Im Dezember ging der Laden bankrott. Die letzten Monate haben wir das fehlende Geld für die Miete aus dem Dispo bezahlt. Aber das geht nicht mehr lange.
Wir suchen seit Jahren eine Wohnung. Es gibt in Berlin nichts für 6 Personen für 755 Euro warm, nirgends. Wir hatten ein Angebot aus Spandau. Jetzt hat der Vermieter abgesagt. 98 Quadratmeter seien zu klein. In der gleichen Woche hatten wir den Termin beim Sozialgericht. Es war schrecklich. Das Gericht stand auf Seite des Jobcenters.
Diesen 1. Mai gehe ich zum ersten Mal demonstrieren, auf die Demonstration gegen Verdrängung, mit meinen Kindern. Ich bin vorher nie gegangen, ich habe die Forderungen nie verstanden. Das war so unkonkret, nur Krawall, hatte nichts mit mir zu tun. Aber das mit den Mieten, das betrifft uns.“
„Wir müssen uns wehren“
Herr M. aus Neukölln kämpft gegen die Verdrängung aus seiner Wohnung:
„Ich wohne mit meiner Frau und unseren zwei Kindern seit 17 Jahren am Maybachufer. Seit 10 Jahren hatte meine Frau die Hauswartstelle inne, wir haben uns um das Haus gekümmert, als ob es unser eigenes wäre. 2008 wurde das Haus verkauft, dann fing es an mit den Mieterhöhungen: erst 75 Euro, dann wurde uns die Hauswartstelle plötzlich gekündigt und wir sollten 400 Euro mehr zahlen. Als wir uns weigerten, bekamen wir sofort eine Räumungsklage.“
„Letzte Woche war die Gerichtsverhandlung. Wir hatten Kontakt zu einer Initiative bekommen, da kamen über zehn Leute, um uns zu unterstützen, das hat mich total gefreut. Und wir haben recht bekommen, zumindest vorerst – so abrupt darf die Miete nicht erhöht werden. Langfristig werden wir vielleicht trotzdem etwas anderes suchen müssen, denn der Vermieter will fast 1.200 Euro für die kleine 3-Zimmer-Wohnung, wenn wir bleiben wollen.“
„Ich arbeite im öffentliche Dienst, verdiene keine 2.000 Euro. Das geht nicht. Wir sind auch fast die Letzten hier: Seit 2008 sind von 31 Mietparteien bis auf vier oder fünf alle ausgezogen. Die haben sich alle vertreiben lassen, ohne sich zu wehren! Die Wohnungen sind verkauft worden, die gehen weg wie nichts. Wir hätten unsere Wohnung auch gern gekauft, aber an uns wollte man nicht verkaufen.“
„Ich bin sonst nie zum 1. Mai gegangen. Aber wenn es dieses Jahr gegen die steigenden Mieten geht, gehe ich hin, vielleicht erzähle ich auch von unserem Fall. Das ist unglaublich, was hier so passiert. Der Anwalt einer Nachbarin hat gesagt: 'Der wirkliche Verbrecher ist der Staat.' Weil der das zulässt oder sogar gezielt fördert. Das sehe ich auch so. Wir können nicht weitermachen nach dem Motto: Schweig und hoff’, dass es dich nicht trifft. Wir müssen uns wehren.“
„Politiker vollquatschen“
Monika Frias, 46, ist Betriebsrätin und geht lieber in den Bundestag:
„Frauenarbeitsplätze sind in diesem Land scheinbar nichts wert. Während der letzten Wochen haben wir bei Schlecker ziemlich viele Mitarbeiter verloren. In Berlin und Brandenburg mussten 148 Filialen schließen.“
„Nun weiß keiner von uns, wie es weitergeht. Die Herrschaften da oben bei Schlecker halten sich zurzeit bedeckt. Wir wissen nur, dass wir vielleicht schon ab dem nächsten Monat auf Gehalt verzichten sollen. Es gibt Gerüchte darüber, dass unser Bruttogehalt um 15 Prozent sinken soll, vielleicht gibt es außerdem kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld mehr.“
„Dagegen kämpfe ich mit dem Betriebsrat. Aber nicht auf der Straße. Protestieren am 1. Mai ändert nichts an der schwierigen Situation der Schlecker-Mitarbeiterinnen. Auch in den letzten Jahren bin ich nicht zur Mai-Demo gegangen. Ich gehe lieber in den Bundestag, um mit Abgeordneten zu sprechen, oder suche die Öffentlichkeit. Meiner Meinung nach bringt es einfach am meisten, wenn ich Politiker direkt vollquatsche.“
„Im Mai treffen wir Betriebsräte uns mit Arbeitssenatorin Dilek Kolat. Unsere Forderung: Die Politik muss es für Arbeitgeber attraktiver machen, Leute zu einem vernünftigen Verdienst einzustellen. In unserer Branche werden meist nur Teilzeitjobs angeboten. Wie soll man davon seine Miete bezahlen?“
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