Proteste in Bangladesch: Kurzer bengalischer Frühling
In Bangladesch demonstrieren Zigtausende gegen den Einfluss der islamistischen Opposition – und fordern die Todesstrafe für einen ihrer Führer.
BERLIN taz | Gewissermaßen ist mit der Gewalt der vergangenen Wochen politische Normalität nach Bangladesch zurückgekehrt. Mit fast täglichen Streiks versucht die Opposition, die Regierung unter Druck zu setzen; die ließ die Proteste niederschlagen und am Montag über 150 Oppositionspolitiker festnehmen.
Hinzu kommt eine weitere Protestbewegung, die unter diesen Umständen eher der Regierung nützt: die Besetzer der Shahbagh-Kreuzung in der Hauptstadt Dhaka und ihre Verbündeten im ganzen Land. Erstmals in der Geschichte Bangladeschs hat diese Bewegung es geschafft, zigtausende Menschen ohne die Hilfe der Parteiapparate zu mobilisieren. Konsequent wahrte sie Distanz zu allen Parteien und verwirrte so die politische Szene. Plötzlich ging das Volk selbstständig auf die Straße.
Ausgangspunkt sowohl der wochenlangen Shahbagh-Besetzung als auch der Gewalt seitens der Opposition sind Gerichtsprozesse gegen Kriegsverbrecher aus dem Unabhängigkeitskrieg gegen Pakistan 1971. Bisher wurden drei hochrangige Führer der islamistischen Jamaat-e-Islami (JI) verurteilt: zwei zum Tode, einer zu lebenslanger Haft.
Tägliche Streiks
Die Shahbagh-Besetzer protestierten gegen das „milde“ dritte Urteil und forderten auch dafür die Todesstrafe. Hingegen wertet die JI die Prozesse als politische Verfolgung.
Seit dem dritten Urteil Ende Februar haben beide Strömungen ihren Unmut auf die Straße getragen. Die JI und ihre Verbündeten setzten mit der Ausnahme von zwei Tagen an jedem Arbeitstag Streiks durch. Bei den Protesten starben bisher mehr als 60 Menschen.
Der Shahbagh-Protest hingegen wurde von einem losen Netzwerk von Bloggern angestoßen und verdankt sein Wachstum dem Engagement zahlreicher Studenten, Künstler und zivilgesellschaftlicher Aktivisten. Er ist auch für bisher politisch nicht Aktive anschlussfähig, wegen seiner Parteiunabhängigkeit – zumal die Forderung nach härterer Strafe für Kriegsverbrecher als unkorrumpierbar ehrenwertes Ziel gilt.
Außerdem wächst seit Jahren die Verärgerung der bürgerlichen Stadtbevölkerung über die JI, deren straff organisierte und gewalttätige Aktivisten in den Dörfern einen fundamentalistischen Islam durchsetzen, oft Terrorgruppen angehören und Pogrome gegen Minderheiten organisieren.
Die Shabagh-Demonstranten fordern nicht nur die Todesstrafe, sondern auch mehr Säkularität und ein Verbot der „Kriegsverbrecherpartei“ JI. Doch ihre parteipolitische Neutralität ist nicht einfach zu wahren, denn die Kriegsverbrecherprozesse gegen die JI-Führer wurden von der regierenden Awami-Liga angestoßen und zielen neben der islamistischen Opposition auch auf Politiker der oppositionellen Volkspartei BNP, historischer Rivale der Awami-Liga.
Verbotsverfahren gegen die JI
Somit ist eine inhaltliche Nähe der Shahbagh-Bewegung zur Regierungspartei unübersehbar. Zwar wurden Awami-Politiker von der Tribüne der Shahbagh-Proteste mit Flaschenwürfen vertrieben, doch im Parlament war es die Liga, die die Forderungen der Demonstranten auf den Weg brache: Eine Gesetzesänderung könnte ermöglichen, dass die kritisierte dritte Haftstrafe in ein Todesurteil umgewandelt wird. Zugleich bereitet die Regierung ein Verbotsverfahren gegen die JI vor.
BNP und JI waren zunächst verwirrt vom Ausmaß des Shahbagh-Protests. Hatte die JI noch vor dem zweiten Kriegsverbrecherurteil mit „Bürgerkrieg“ gedroht, hielt sie sich danach zunächst zurück. Es schien offen, ob sie die Unterstützung ihres langjährigen Partners, der größeren und gemäßigteren BNP, behalten würde. Doch nach dem dritten Urteil hat sich die Opposition wieder sortiert: Für die JI hat der Kampf um ihr Überleben begonnen und die BNP hat erkannt, den Anschluss zu Shahbagh verpasst zu haben.
Während der Gewalt der vergangenen Tage rückten die Shahbagh-Besetzer und die Regierung noch näher zusammen. Die Proteste der Shahbagh-Bewegung sind aus Angst für Leib und Leben ohnehin kleiner und seltener geworden und sie brauchen den Schutz der Polizei. Diesen gewährt die Awami-Liga willig und lässt andererseits die Opposition niederschlagen und verhaften. Die Behauptung der BNP, die Protestbewegung sei nur nur eine „Marionette“ der Regierungspartei, könnte so zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden.
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