Proteste für die Freilassung von Ai Weiwei: 1.001 Stühle für die Freiheit
Weltweit haben Menschen auf Stühlen sitzend vor chinesischen Vertretungen die Freilassung Ai Weiweis gefordert. Die Aktionen sind eine Hommage an den Künstler.
BERLIN taz | Chris Simeon gehört am Sonntagmittag zu den Ersten, die mit ihrem Klappstuhl unterm Arm auf der Berliner Jannowitzbrücke erscheinen und auf dem Gehweg Platz nehmen. "Ich muss einfach dabei sein, wenn wir Künstler es denen zeigen", sagt die Bildhauerin. Dabei deutet sie hinüber zur chinesischen Botschaft. "Hier in Deutschland kostet es nichts, vor der Botschaft zu protestieren", fährt Simeon fort. "Aber es ist wichtig."
Thomas von Arx hat in chinesischen Schriftzeichen die Worte "Werte und Fakten" auf einen Stuhl gemalt. Von diesen Begriffen sei in der deutschen Chinapolitik dauernd die Rede, sagt der Schweizer Künstler. "Aber Ai Weiwei helfen solche Floskeln im Gefängnis wenig".
Die Menschen von der Jannowitzbrücke demonstrieren mit ihren Stühlen gegen Ai Weiweis Verhaftung. Der weltweit bekannte chinesische Künstler war am 3. April in Peking festgenommen worden. Kurz zuvor hatte Außenminister Guido Westerwelle dort die Ausstellung "Die Kunst der Aufklärung" eröffnet. Ais Aufenthaltsort ist immer noch unbekannt. Die chinesischen Behörden werfen ihm Wirtschaftsvergehen vor.
Menschenrechtler kritisieren die Verhaftung scharf. Im Internet haben Künstler dazu aufgerufen, jeweils um 13 Uhr Ortszeit in verschiedenen Städten der Welt 1.001 Stühle für Ai Weiwei vor den jeweiligen chinesischen Botschaften aufzustellen. Die Aktion, die unter anderem auch in New York, Stockholm, Moskau, Paris, aber auch in Hongkong stattfindet, spielt auf Ai Weiweis Arbeit "Fairytale" an, bei der er 1.001 historische chinesische Stühle sowie 1.001 Chinesen 2007 zur Documenta nach Kassel gebracht hatte.
In Berlin sind dem Aufruf gut 200 Menschen gefolgt. Schon am Samstag hatte ein Dutzend Menschenrechtsaktivisten vor dem Brandenburger Tor einen Abbruch der deutschen Ausstellung in Peking gefordert. Am Sonntag demonstrierten unter anderem bekannte Gesichter wie der Kurator Peter Funken oder der frühere Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke.
Viele halten Plakate mit dem Ai Weiweis Konterfei hoch oder streuen Sonnenblumenkerne - ebenfalls eine Anspielung auf eine von Ais Kunstaktionen. Die Polizei beschränkt sich darauf, das Freihalten des Radwegs anzumahnen. Aus der chinesischen Botschaft sieht und hört man nichts. Nur eine Gruppe Chinesen schlendert betont beiläufig vom benachbarten Restaurant "Ming Dynastie" herüber. Vor den Stuhlsitzern bleiben sie irritiert stehen. Sie seien Touristen, erklären sie. "I dont know Ai Weiwei", sagt eine Frau und geht schnell weiter.
Auch in anderen deutschen Städten wurde demonstriert. In München saßen knapp 80 Menschen vor dem Konsulat, auch in Minden, Kassel und Hamburg fand die Aktion statt. In Hongkong wurden die Demonstranten von Polizei angegriffen.
Bericht dementiert
In Deutschland geht die Debatte um die Position der Bundesregierung zur Inhaftierung Ai Weiweis und zur deutschen Ausstellung in Peking weiter. Eine Regierungssprecherin dementierte am Sonntag einen Bericht im Spiegel, wonach sich die Bundeskanzlerin für Ai Weisweis Freilassung eingesetzt haben soll. "Die Haltung der Bundeskanzlerin zur Inhaftierung von Ai Weiwei ist klar und bekannt, aber in sonstiger Hinsicht ist der Bericht des Spiegels unzutreffend", erklärte die Sprecherin.
Gegen die derzeit diskutierte vorzeitige Schließung der deutschen Kunstausstellung in Peking sprachen sich der Präsident des Goethe-Instituts, Klaus-Dieter Lehmann, und der Berliner Staatssekretär für Kultur, André Schmitz, aus. "Wenn man jetzt zurückzieht, dann ist nichts gewonnen", sagte Lehmann am Sonntag im Deutschlandfunk.
Die chinesischen Behörden gehen weiter verstärkt gegen Regierungskritiker vor, darunter Schriftsteller, Künstler, Anwälte und Aktivisten. So nahm die chinesische Polizei nach Angaben einer Menschenrechtsorganisation am Sonntag auch Dutzende Mitglieder einer christlichen Gemeinde fest.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland