Protest gegen hohe Mieten: Die Wut wohnt in ganz Berlin
Zwei Wochen vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus haben am Samstag Tausende friedlich gegen Mietsteigerungen protestiert.
Es knallt. Sieben schwarz Vermummte stehen auf einem Dach am Hermannplatz, über ihren Köpfen explodieren Feuerwerkskörper. Sie entrollen ein riesiges Transparent: „Mieten sind so gar nicht Punk Rock“ steht darauf. Die Menge pfeift begeistert.
Die „Wutmieter“ sind unterwegs am Samstag, sie demonstrieren gegen Mietsteigerungen in Berlin. Mit Plakaten und Trillerpfeifen laufen sie durch Kreuzberg und Neukölln. Auf selbst gemalten Straßenschildern steht, woher sie kommen: Moabit und Treptow, Zehlendorf und Lichtenberg, Schöneberg und Neukölln. Die Veranstalter, ein Bündnis aus Stadtteilinitiativen, zählen 6.000 TeilnehmerInnen, die Polizei zählt 2.500.
„Wenn die Mieten weiter steigen, muss ich ausziehen“, sagt Michael K. Der Künstler wohnt seit 22 Jahren am Stuttgarter Platz in Charlottenburg. Er hält ein Plakat hoch: „Ich hab noch einen Koffer in Berlin, mehr nicht.“ Seit einem Jahr gehört das Haus am Stuttgarter Platz einem neuen Besitzer. Im Mai stieg die Miete regulär um 20 Prozent. „Jetzt sollen noch 10 Prozent wegen Modernisierungsarbeiten hinzukommen.“ Der 51-Jährige ist dem Aufruf der Veranstalter gefolgt, seinen Stimmzettel ungültig zu machen. Demonstrativ klebt sein Briefwahlzettel auf einer Pappe – durchgestrichen.
Auch die 72-jährige Christa H. in Charlottenburg kann nichts mehr mit den großen Parteien anfangen. Früher hat sie die SPD gewählt, jetzt hält sie ein Bild von Klaus Wowereit in der Hand. Sein Lächeln wurde mit dem Computer in ein übergroßes Grinsen verwandelt. „In acht Jahren 150.000 Wohnungen privatisiert – Sozialabbau Partei Deutschland“ steht darauf. „Wowereit geht nur noch auf Partys“, sagt H., schwingt die Hüften und ballt eine Hand zur Faust. Deshalb wolle sie jetzt eine Splitterpartei wählen. „Ich dachte, ich hätte gut vorgesorgt“, sagt die ehemalige Stewardess, die von betrieblicher und privater Altersvorsorge lebt. Aber eine noch höhere Miete könne sie nicht bezahlen. „Ich bin bereit, wieder auf die Straße zu gehen.“
Die Demonstranten, die durch Kreuzberg und Neukölln ziehen, sind bunt gemischt. Linke und Alternative sind dabei, aber auch Studenten, Familien und Rentner. Parteifahnen sind nicht erwünscht. Dem zweijährigen Manolín ist die Demo nicht so wichtig. Er schläft, während ein paar Meter weiter Musik vom Demowagen dröhnt. Ein Pappschild klemmt an seinem Buggy: „35 Euro im Monat für eine Klingel hat deine Mutter.“ Paco Höller, Manolíns Vater, grinst, wenn man ihn fragt, was das bedeutet. „Wir wohnen seit ein paar Monaten im Schillerkiez und haben noch keine Klingel.“ Jetzt habe der Vermieter angeboten, für 35 Euro im Monat eine Klingel mit Sprechanlage zu installieren.
Kurz vor Ende der Demonstration mischt sich am Kottbusser Tor eine neue Gruppe in die Menge. „I dont love Miete“ steht auf den Plakaten. Die rund 50 Demonstranten gehören zur Mietergemeinschaft „Kotti & Co“, die meisten von ihnen sind türkischstämmig. Innerhalb von drei Jahren seien die Mieten zum Teil um 250 Euro gestiegen, sagt Asiye A., die seit 13 Jahren hier wohnt. Der Staat müsse handeln. „Wir wollen nicht verdrängt werden.“
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