piwik no script img

Protest gegen Stuttgart 21"Bleiben bis zum Baustopp"

Nach dem Abriss-Beginn tickerten Aktivisten via Handy und Netz los. Sie wollen "bleiben bis zum Baustopp". Die Polizei sagt, die Proteste hätten "ihren friedlichen Charakter verloren".

Demonstranten am Donnerstag auf dem Dach des Stuttgarter Bahnhofs. Bild: dpa

STUTTGART taz | Sie waren empört, wütend, enttäuscht, traurig – und manche Bürger konnten es schlichtweg nicht fassen, als sie zusehen mussten, wie der Bagger die Grundfeste ihres Bahnhofs einriss. In Stuttgart war der befürchtete Tag X gekommen. Die massiven Abrissarbeiten am Nordflügel zugunsten des Milliardenprojekts "Stuttgart 21" hatten begonnen.

Via Internet und SMS löste die Dauermahnwache, die seit Wochen vor dem Nordflügel die Baumaßnahmen im Auge behält, Alarm aus. Ein Schneeballsystem sorgte dafür, dass sich innerhalb kürzester Zeit der Platz vor dem Bauzaun mit hunderten Demonstranten füllte. Die Polizei hatte zuvor mit einem zusätzlichen Absperrgitter und einem massiven Aufgebot den Bauzaun abgeriegelt und hielt so die Gegner auf Abstand.

Die Nord- und Südflügel müssen weichen, weil der oberirdische Kopfbahnhof unter der Erde verschwinden soll. In 33 Kilometer langen Tunneln sollen Gleise verlegt werden. Ein gigantisches Vorhaben, das nach offiziellen Angaben 4,1 Milliarden Euro verschlingen wird. Gegengutachten kommen noch auf weitaus höhere Zahlen.

Nun also sollten am Mittwoch Fakten geschaffen werden, um dem einen, von den Projektplanern immer wieder betonten Wort "unumkehrbar" noch mehr Gewicht zu verleihen. Doch eines machten die Gegner deutlich: Das letzte Wort sei hier noch nicht gesprochen. "Was hier heute passiert ist, ist eine Provokation der Bürger", sagte Gangolf Stocker vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 bei der improvisierten Kundgebung am Mittwochabend. Der Protest werde nicht nachlassen. Schließlich stehe auch Anfang nächsten Jahres die Landtagswahl an. "Wahltag ist Zahltag", warnte er deshalb die S21-Befürworter.

Eroberst zeigten sich die Gegner auch darüber, dass der Kommunikationschef von Stuttgart 21, Wolfgang Drexler (SPD), noch vor wenigen Wochen angekündigt hatte, die Fassade werde Stein für Stein abgebaut, damit die wertvollen Quadersteine aus Muschelkalkstein weiterverwendet werden könne. Stattdessen habe der Abrissbagger mit brachialer Gewalt die Fassadensteine in Schutt und Asche zertrümmert, kritisierte Gerhard Pfeifer vom Umweltverband BUND.

Der Protest spielte sich jedoch nicht nur am Bahnhofsvorplatz ab. Kurz vor der Kundgebung gelang es sieben Demonstranten auf das Dach des Nordflügels zu klettern. Unter tosendem Applaus der Masse befestigten sie ein Plakat mit einem "Gruß" an den Stuttgarter CDU-Oberbürgermeister: "Brandstifter Schuster – Raus aus dem Rathaus".

Eine Stunde später dann die zweite Aktion, die die Masse aufjubeln ließ. Eine Gruppe von Demonstranten hatte mit einer Gleisblockade die Abfahrt des TGV Richtung Paris behindert. Er konnte erst mit einer Verspätung von 45 Minuten und verziert mit vielen gelben Protestaufklebern gegen Stuttgart 21 abfahren.

Seit dem Nachmittag hatten zudem viele ihren Protest auf die Straße verlagert und legten den Verkehr rund um den Bahnhof und Schlossgarten lahm. Den Auto freien Asphalt nutzten sie, um Federball oder Fußball zu spielen, mit Musikinstrumenten Stimmung zu machen oder Comics zu lesen, wie zwei Kinder auf einer Fußgängerinsel.

In den Augen der Polizei hätten die Proteste jedoch "ihren friedlichen Charakter verloren". Rettungskräfte seien behindert und Besucher eines Weinfestes mit Eiern beworfen worden. Eine Gruppe von Straßenblockierern habe Flasche geworfen. „Generell versucht die Politik uns über die Polizei zu kriminalisieren“, sagte Matthias von Herrmann, Sprecher Initiative Parkschützer.

Die Angaben dazu, wie viele Demonstranten es insgesamt waren, gehen weit auseinander. Die Organisatoren sprachen von 20.000 bis 30.000 in der gesamten Stadt, am Bahnhof selbst seien es um die 12.000 gewesen. Die Polizei kam auf 6.000. Sie löste am späten Abend die Straßenblockaden auf.

Die Dachbesetzer aber blieben – und das wollen sie so lange, bis Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) den sofortigen Baustopp erkläre. Für Freitag ist zudem die nächste Großdemo geplant. Um 19 Uhr wollen die Gegner den Landtag umzingeln. Stuttgart war indes nicht der einzige Ort, wo demonstriert wurde. Nachdem sich der traditionelle Schwabenstreich im Ländle und dann bis nach Berlin ausgebreitet hat, fand er am Mittwoch sogar in New York statt. Am Abend pfiffen und grölten knapp zehn Deutsche eine Minute lang auf dem Times Square gegen das Bauprojekt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

14 Kommentare

 / 
  • C
    Celsus

    Wir sind das Volk!

     

    Gegenüber steht die Staatsmacht drückt ein Projekt durch, dass nur von einer Minderheit in der Bevölkerung gewollt ist.

     

    Hier muss die Möglichkeit einer demokratischen Vollsabstimmung her, wie sie in der Schweiz schon seit Jahrhunderten möglich ist. In großen Ländern wie Kalifornien und Venezuela ist es ebenfalls eine Selbstverständlichkeit. Warum liegen wir in demokratischen Fragen nur so weit zurück?

  • N
    Nico

    Der Zorn der Schwaben ist sehr gut verständlich ge-

    macht in (bitte bei Googel eingeben) ZDFmediathek

    und dann "Der-Zorn-der-Schwaben".

  • N
    Nico

    Der Zorn der Schaben ist sehr gut verständlich ge-

    macht in (bitte bei Googel eingeben) ZDFmediathek

    und dann "Der-Zorn-der-Schwaben".

  • A
    Anna

    Die Polizei und die S21-Macher warten förmlich darauf, dass Leute aggresiv werden, und sie einen Grund haben die Demos zu verbieten, allesamt sind Anti-Demokraten. Aufkleber in ihrer Wohngegend deuten Sie als Bedrohung, da denkt man schon an Verfolgungswahn. Wenn bei 30.000 Menschen einer aggresiv wird, ist das super wenig. So friedliche Demonstrationen wie in Stuttgart gibt es selten, die Organisatoren beruhigen ununterbrochen, es wird entspannende Musik gespielt und wenn sich einer zu heftig aufregt, wird er auch schon von den nebenstehenden beruhigt. Eine Demo wie sie sein soll, sie überzeugt durch ihre Größe und Dauer!

  • FR
    Friedemann Reiner

    Bertolt Brecht 1936(GA, Bd.14, Gedichte 4, S. 343:

     

    "Über die Gewalt

    Der reißende Strom wird gewalttätig genannt

    Aber das Flußbett, das ihn einengt

    Nennt keiner gewalttätig.

    Der Sturm, der die Birken biegt

    Gilt für gewalttätig

    Aber wie ist es mit dem Sturm

    Der die Rücken der Straßenarbeiter biegt?"

  • K
    Kaffeetrinkerin

    Das massive Aufgebot bewaffneter, filmender Polizeibeamter gegenüber bodenständigen, friedlichen, bürgerlichen Demonstranten entbehrt jeglicher Grundlage. Da gehen unsere Steuergelder dahin. Aber sollen sie nur zahlen die da oben, die dieses hochriskante Vorhaben umsetzen wollen.

    Ein Highlight am Mittwoch war, dass der Protest auch bis Paris getragen wurde! Und das nicht nur in Form von massiver Verspätung, sondern Aufklebern der S21 Gegner am Heck des TGV!

    Es sind viel mehr als nur die Demonstranten die gegen das Projekt sind. Wer sich hellhörig in Stuttgart und Umgebung umhört, hört massive Gegenstimmen. Leider ist sehr viel Resignation dabei, weil sie nicht wissen, dass sie durch Protest etwas bewirken können. Ich werde nicht müde immer wieder darauf hinzuweisen.

    Ich selbst habe mich bislang nur am Rande von Demonstrationen aufgehalten. Ich bin eine des repräsentativen "Durchschnitts" und mir ist viel wichtiger, dass der Öffentliche Personennahverkehr bezahlbar gemacht wird, vom Bund subventioniert wird, damit Bahnfahren nicht zum Luxus, sondern zur Selbstverständlichkeit wird!

  • PA
    Peter A. Weber

    Ich solidarisiere mich in vollem Umfang mit der Stuttgarter Bürgerbewegung gegen das Willkürprojekt S 21. Dieses Projekt steht wirklich stellvertretend für bundesweit unzählige andere bürgerfeindliche staatliche Vorhaben, die sich gegen jegliche ökologische, ökonomische und wissenschaftliche Vernunft stellen.

     

    Die deutsche (und leider auch internationale) Politik und Wirtschaft gewöhnt sich demokratiefeindliche feudalistische Verhaltensweisen an, indem man einfach Fakten setzt, ohne vorher demokratische Mechanismen vorzuschalten. Diese werden dann rücksichtslos gegen den Willen des Souveräns durchgezogen nach dem Motto "Augen zu und durch",dagegen sprechende Fakten werden einfach ignoriert und die absurdesten Proargumente vorgespiegelt.

     

    Was dem Ganzen die Krone aufsetzt, ist die schließlich die Dreistigkeit und Arroganz, daß die Tatsache der Nichtakzeptanz durch die Bürger als als "mangelnder Vermittlungseffekt" dargestellt wird. Soll heißen, die Bürger seien zu doof, um diese Machwerke zu begreifen. Tatsächlich scheinen viele Bürger endlich aufgewacht zu sein und sind daher Gegenteil sehr klug, wenn sie sich von der auf die auf sie niederprasselnde Propaganda nicht beeindrucken lassen.

     

    Ich kann nur wünschen, daß die Bürgerbewegung Stuttgart Schule macht und bundesweit endlich Widerstand geleistet wird!

  • O
    otto

    "friedlichen Charakter verloren?"

     

    Was ein Bullshit!

  • X
    xonra

    Abrissbirne ist Gewalt.

  • Y
    Yannick

    Wer nicht vor Ort kommen kann, dem sei diese Webcam ans Herz gelegt:

     

    http://webcam.schrem.eu/

  • L
    Letterman

    Hätte die Stadtspitze doch nur das Bürgerbegehren nicht gestoppt. Schöner als in einer demokratischen Abstimmung kann Protest gar nicht untergehen, siehe Kö-Bogen in Düsseldorf.

  • N
    Name

    Wieso der Protest? S Hbf war eh hässlich... aber Geschmäcker sind verschieden...

  • H
    hiasl

    der vorwurf des "nicht-friedlichen" weil teilweise auf rechtsbruch basierenden protests ist wohl seltsam. ich denke jeder in stuttgart hätte sich einen friedlichen weg eines bürgerentsceids gewünscht. da dieser nicht zugelassen wird gibt es keine andere möglichkeit mehr demokratie einzufordern.

  • CC
    Checker C

    Ich wiederhole mich nochmals: Der Widerstand gegen S21 ist mehr als ein Widerstand gegen ein irrsinniges Bauprojekt.

     

    Es ist der friedliche Protest gegen Machtmissbrauch der Politik, gegen Lügen, gegen Staatsgewalt...

    Der Protest ist ein Zeichen für Demokratie, für Solidarisierung, Gemeinschaft, Kreativität...

     

    Ich empfehle jedem der kann sich einfach ein Bild vor Ort zu machen und an den Bauzaun nach Stuttgart zu kommen.

     

    Die Kreativität und die Zusammensetzung der S21-Gegner wird überzeugen.

    Von 0 bis 80 Jahre alt ist alles auf den Beinen, jeglicher Coleur, jeglichen Berufsstandes, jeglichen äußeren Erscheinungsbildes...

    Die Protestbewegeung ist schlicht der repräsentative Querschnitt unserer gesamten Gesellschaft. Es sind das ganz einfach WIR die betroffen sind und WIR die demonstrieren. Und WIR sind friedlich...