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Prosit Vielleicht gibt es keinen besseren Ort, um dem Wandel unserer Gesellschaft nachzuspüren, als Gitti’s Bierbar in Berlin-Mitte. Deutsche Normalität. Aber was ist heute noch „normal“?Die kleine Kneipe in unserer Mitte

Aus Berlin Klaus Raab (Text) und Christian Mang (Fotos)

Es gibt kaum einen deutscheren Ort als Gitti’s Bierbar, die letzte Schult­heiss-Kiezkneipe in Berlin-Mitte, nach Feierabend.

Es laufen Kultschlager auf CD, zwei Spielautomaten tüddeln vor sich hin, und Stammgast Tina erzählt einen Witz: „Wie heißt der Aal mit Vornamen?“ Minipause. „Laternenpf!“

Schwarz-Weiß-Fotos zeigen den Kiez, wie er früher war. Hinter dem Tresen hängen drei Autogramme von Christian Anders neben Fahnen von Hertha BSC und Bayern München. Und am Stammtisch, ausgestattet mit einem Aschenbecher, in dem man den Inhalt einer Handtasche parken könnte, geht es darum, dass „denen“, also der Politik, „der Arsch auf Grundeis“ gehe wegen der Flüchtlinge – neueste Wendung: „Jetz’ wollen die den Brenner dicht machen“; dann um die leeren Gläser („Noch vier Bier, Euer Ehren!“) und schließlich um die Unlesbarkeit des „Kapitals“: „Das, Komma, noch irgendwas, Komma, weil, Komma, zehn Seiten, dann hab ick’s wieder zujemacht.“

Je nachdem, wer Gitti’s Bierbar besucht, wird einen Ort finden, der Deutschland als Deutschland erkennbar macht: einen Ort im alten Ostberlin, der sich kaum verändert hat in den vergangenen Jahrzehnten. Oder einen Raum, der eben doch von einem gewaltigen Wandel erfasst wurde – innen mag alles beim Alten sein, aber außen ist alles anders: wie ein Trabi oder ein Kadett, der von der Landstraße direkt auf die Formel-1-Strecke geleitet wurde.

Arbeiterkneipen wie Gitti’s Bierbar, besucht von „kleene Bürger wie wir“, waren einmal prägende Bestandteile einer deutschen Normalität, die man mögen konnte oder nicht: Normal war sie jedenfalls, so normal wie Gartenzwerge, Kohlrouladen zum Mittag und Musik von Bernhard Brink. Aber heute, was ist heute schon ­normal?

In Gitti’s Bierbar ist „normal“ ein Wort, das zur Selbstbeschreibung dient: Wir sind normal. Das hier ist normal. Dass der eine, weil er eine Hilti-Bohrmaschine besitzt, der anderen zwei Löcher in die Wand bohrt, ohne gleich einen Fuffi als Bezahlung zu verlangen – normal. Dass die andere eine Soljanka, „aber’ne richtige“, für die Stammgäste kocht – normal. Dass hier jeder am Stammtisch im Lauf eines Abends eine Runde schmeißt – ebenfalls normal. Es käme für alle auf dasselbe hinaus, wenn jeder seine eigenen fünf oder acht Biere bezahlen würde, aber die Runde ist ein Signal: Wir hier drinnen sind füreinander da.

„Normal“ wird dabei aber auch mit dem Zusatz „noch“ gebraucht: Hier drinnen ist es noch normal. Was auch bedeutet, dass es draußen, wo der Dönerimbiss die Currywurstbude, das hundertste Hostel den alten Zierfischladen und Chichi den Eintopf mit Knacker abgelöst hat, nicht mehr normal ist. Das Normale, das hier gemeint ist, ist die Ausnahme: „Dass es so menschlich zujeht, dat is ja nicht mehr üblich heute“, sagt Michael, der hinter dem Tresen steht und wie die Stammgäste nur einen Vornamen hat.

Wenn das Normale aber das Exotische ist: Ist ein Ort wie Gitti’s Bierbar – rein geografisch am Rand von Berlin-Mitte gelegen – dann gesellschaftlich gesehen noch Mitte? Oder schon Randbereich?

Berlin-Mitte, das Regierungs- und Touristenzentrum der Hauptstadt, wurde schon vor 20 Jahren als glitzernde Projektionsfläche beschrieben. Bis heute kleiden Reiseführer die neuere Geschichte des Ortsteils in eine Erzählung des Aufbruchs: Mitte als Sehnsuchtsort für Leute, die nach dem Ende der DDR jung genug waren, um ihre Herkunft verdrängen zu können, und in die Freiheit losliefen, während um sie herum die Konfliktlinien verblassten, an denen die Alten entlangmarschiert waren.

Der Stadtteil Mitte, einst Ostberlin, ist nach der Wende so auch Chiffre für „die Mitte“ geworden. Nicht rechts, nichts links, nicht unten und oben – vorne. Ein Trendlabor für Splittergruppen; für Detox-Ku­li­nariker, Wechseljuicer, Start-up-Gründer, Hochwasser­leggingsträger und ­Weltenhopper, die, auf der Straße sitzend, schon in die Kameras aufgeklappter Laptops sprachen, als es auf der Friedrichstraße noch keinen einzigen autorisierten Apple-Händler gab. Was alle zusammenhält, sind die Projektio­nen der eigenen Wünsche auf den Ortsteil.

Gitti’s Bierbar ist, von diesem Berlin-Mitte aus betrachtet, ein Randgebiet. Woran hier laboriert wird, ist die Verweigerung der ewigen Erneuerung. Neu hier ist, dass es keine Wurst mehr gibt. Als das Rauchverbot für Speiselokale beschlossen wurde, habe Wirtin Gitti einfach das Essen abgeschafft, sagt Michael: „Pfeif auf die Scheiß-Bockwurst, lieber die Raucher behalten“, und siehe da: Selbst die Nichtraucher sind noch da.

Andererseits ist im anderen, dem neuen Mitte heute auch jede Menge Stillstand – er schillert nur schön. Überall, wo vor 15 Jahren hoffnungsvoll Kräne standen, befinde sich heute eine Zara-Boutique, schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung dieser Tage.

Als Chiffre für „politische Mitte“ funktioniert Berlin-Mitte allerdings noch immer. Wer in diese Mitte drängt, wie CDU, SPD und Teile der Grüne, wird nicht umhinkommen, sich mit der Fragmentiertheit und Heterogenität auseinanderzusetzen, die kaum irgendwo größer sind als im Bundestagswahlkreis Berlin-Mitte, wo die stärkste Partei auf gerade mal ein Viertel der Stimmen kommt.

Das Problem der Mitte-Fixierung ist nur, dass nicht alle dazugehören können. Wer die Mitte anspricht, schafft Randlagen: Irgendjemand muss dann draußen bleiben, wie bei der Reise nach Jerusalem.

Das macht Gitti’s Bierbar zum deutschen Ort der Gegenwart: Am Rand von Mitte gelegen, befindet sie sich an der Schnittstelle der begehrtesten politischen Zielgruppen. Ins Exotische abgedrängt von „der Mitte“, für die einige politische Parteien die Deutungshoheit beanspruchen. Ins Visier genommen von anderen – Linkspartei, AfD, auch der CSU –, die behaupten, Politik für die zu machen, die das Tempo der Veränderung nicht mitgehen könnten und übervorteilt würden, für die sogenannten kleinen Leute.

Also, wo stehen sie, hier in Gitti’s Bierbar?

„Hier gibt es allet“, sagt Michael und erzählt von der Buntheit, „wir haben alle Berufsgruppen, Elektriker, Schornsteinfeger, Bahnanjestellte.“ Einen Anwalt auch, der ist nur gerade nicht da. „Und der Daniel Kübl­böck war schon oft hier“, sagt Tina. Woraufhin sie erzählt, wie er hier einmal „New York, New York“ sang. „Der kommt hier gern her, weil er hier wie ein janz normaler Mensch behandelt wird“, sagt sie. Der Einzige, der nicht willkommen ist, ist ein Bettler, der die Bar betritt, um eine Zigarette zu schnorren. Unter großer Anteilnahme der Anwesenden wird er achtkantig hinausgeleitet, wobei die ­Begründungen variieren zwischen „Mir schenkt auch keener wat“, „Hier sind schon Jacken weggekommen“ und „Morgen stehen dann zwei von denen hier“.

Es ist Sonntagabend. Der Tag, an dem ein AfD-Vertreter mit den Worten zitiert wurde, „die Leute“ würden Jérôme Boateng als Fußballer mögen, wollten „einen wie ihn“ aber nicht als Nachbarn haben. Ist das so? Das Thema wird vom Stammtisch selbst aufgebracht, inte­ressiert dann aber doch eher nur einen feuchten Dreck. Der einzige Kommentar: „Is das wieder ein Geschiss in den Medien.“

Stammgast Tina hat zu dem Thema zwei andere Assozia­tionen. Erstens: Wenn ihr eine Nachbarschaft auf den Senkel geht, dann die zu den „Scheiß-Spätis“ und den Touristenkathedralen der neuen Mitte, weil sie nachts das Fenster zumachen muss. Und zweitens: Nachbarschaftshilfe. „Wenn du Hilfe brauchst“, sagt sie, „kommste hier rin und sagst, hilf mir mal mit dem Kurzschluss. Kostet ein Bier. Dit is Kiezkneipe!“ Toll, wirft man ein, das ist ja fast eine alternative Wirtschaftsordnung, was allgemeines Schweigen auslöst, bis Tina die Situation rettet und irgendeine Kamelle aus Malle erzählt.

Wie eine Familie

Wenn man Micha, Tina und Heiko fragt, warum es diese Bar noch gibt, wo doch die anderen Kiezkneipen weggentrifiziert wurden, erzählen sie eine Geschichte der Solidarität: weil Inhaber und Publikum wie eine Familie seien. Weil es nicht ums große Geldverdienen gehe, sondern darum, dass es am Ende ausreiche und die Leute beieinandergehalten würden.

So blieb das Stammpublikum zusammen, eine kleine Blase aus der großen Seifenblasendose der Gesellschaft – und damit eigentlich auch nichts anderes als die anderen Blasen, die „der Mitte“ zugerechnet werden. Man muss nur mal den eigenen Handynummernspeicher durchforsten, um herauszufinden, ob die eigene Blase wirklich so bunt schillert.

Das Problem der Kategorie der politischen Mitte ist, dass sie ein Instrument der Ausgrenzung ist. Letztlich ist damit gemeint: Wir hier drinnen sind gut. Aber wer würde glauben, dass aus anderen Lokalen in „der Mitte“ noch nie ein Bettler rausgeworfen wurde? Wer sagt, wo „die Mitte“ aufhört und der Rand beginnt?

Feierabend in Gitti’s Bierbar. „Bringste mir noch’ne Nase, Schatz?“, fragt Tina. Sie schraubt den Deckel eines Fläschchens Kümmerling ab, setzt ihn auf die Nase, und hopp. Und dann tschüssi. Heiko, bei Tina untergehakt, bringt sie noch vor ihre Haustür. Man weiß nie, was passieren kann da draußen.

Ein letzter Versuch, an ein Zitat der Selbstverortung zu kommen: Gitti’s Bierbar – Mitte oder nicht? „Dit hier is Mitte, logisch“, sagt Tina. „Aber da vorne is Kreuzberg.“

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