Prosit 98!: Berlin leidet an multipler Schizophrenie
■ Die Stadt braucht keine Selbsthypnose oder Wunderheiler, die eh nicht in Sicht sind, sondern Funken von Zuversicht
„Alles Gute fürs neue Jahr“, zwitschert meine 93jährige Nachbarin, und – wie immer bei solchen Anlässen – „Hauptsache Gesundheit!“
Gesundheit kann man immer brauchen, aber was braucht eine Stadt? Hat sie denn Bronchitis, Schnupfen und Fieber – wie derzeit fast jeder ihrer Bewohner? Soll man ihr heiße Wickel machen im neuen Jahr? Wohl kaum. Berlin leidet an einer Krankheit, gegen die kein Hausmittelchen hilft: an multipler Schizophrenie.
Berlin, das wiedervereinigte, ist im Bewußtsein und im Alltag seiner BewohnerInnen gleich in mehrere Städte gespalten: nach wie vor, aber mit abnehmender Tendenz, in Ost und West, in öffentlich und privat, in alt und neu, Glitzerhauptstadt und Armenhaus. Auch ihre BewohnerInnen sind in sich gespalten: 53 Prozent sehen optimistisch ins neue Jahr. Aber: Fast genauso viele glauben, daß sich die Lebensqualität der Stadt verschlechtern wird in den kommenden Jahren.
Was also kann man tun gegen die Berliner Krankheit? Wunderheiler, die die Schizophrenie zumindest zeitweise überbrücken könnten, haben sich bislang für 1998 nicht angesagt – kein Christo, der aus Millionen Einwohnern „die Berliner“ macht, die sich eins fühlen mit sich selbst und mit ihrer Stadt, und auch der Reichstag kann nicht jedes Jahr Richtfest feiern, weil er sonst ja nie fertig wird.
Vielleicht hilft die Therapie, die ratlose Mediziner immer empfehlen bei schwer zu kurierenden Leiden: die Krankheit akzeptieren.
Für die BerlinerInnen und ihre Regierer hieße das, nicht wie bisher standhaft zu leugnen, daß auch die anderen Berlins existieren: die glitzernden Vorzeichen des Aufbruchs am Potsdamer Platz und die wachsende soziale Ausgrenzung, ein technisch-waghalsiger Tiergartentunnel und eine U-Bahn, bei der immer öfter das Schild „Zugverkehr unregelmäßig“ blinkt.
Die Stadt braucht keine Selbsthypnose, aber Funken von Zuversicht. Warum ist nicht jeder der bezahlten Regierer verpflichtet, zu Jahresanfang zehn Vorhaben zur spürbaren Verbesserung der Lebensqualität zuzusagen? Sind die bis zur Jahresmitte nicht mindestens zur Hälfte realisiert, treten die Verantwortlichen freiwillig ab: der BVG-Vorstand, der für immer weniger Leistung immer mehr Fahrgeld fordert und nicht mal einen Fahrplan drucken kann; die Graffitibekämpfer, die zu feige sind, Hundehalter anzuzeigen oder die Stadreinigung wieder zur kostenlosen Sperrmüllabfuhrholung zu vergattern; die Finanzverwaltung, die Berliner Eigenbetriebe auf dem Weltmarkt feilbietet, aber nicht in der Lage ist, für die Autos vor der Haustür die Kfz-Steuer einzutreiben. Und auch die Landowskys, die von Berlin als Drehscheibe zu Osteuropa parlieren, aber jeden Russen oder Polen am liebsten abschieben möchten; die Kulturpolitiker, die für die Jahrtausendfeier Millionenetats in organisierte Langeweile verplant haben, aber Berlins kreatives Potential nicht zu nutzen wissen. Vera Gaserow
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