„Priština ist die Hölle auf Erden“

■ Ein Arzt berichtet nach seiner Flucht über marodierende Serben und terrorisierte Albaner. Die meisten Flüchtlinge sind noch immer im Kosovo

Seit dem Beginn der Nato-Luftangriffe auf Jugoslawien herrscht im Kosovo die nackte Angst. Die Menschen verbarrikadieren sich in ihren Häusern und Wohnungen und wagen keinen Schritt vor die Tür. Bewaffnete Serben in Uniform und in Zivil machen die Straßen unsicher, und niemand will riskieren, in ihre Fänge zu geraten.

Ein Arzt aus Priština, der am Samstag abend mit seiner Familie in der grenznahen makedonischen Stadt Tetovo eintraf, ist wohl einer der ersten Vorboten einer gewaltigen Flüchtlingswelle. „Wir haben drei Nächte im Keller verbracht, die Kinder mit Beruhigungsmitteln stillgehalten“, erzählt der Mann, der aus Angst um Angehörige im Kosovo seinen Namen nicht nennen will. Priština sei für die Albaner zur Hölle auf Erden geworden. Es gebe weder Strom noch Wasser. Schüsse und Bombendetonationen gellten durch die Nacht. Bewaffnete Serben gingen umher, klopften an die Haustüren, würfen Bomben, zündeten Häuser an und brächten offenbar auch Menschen um. Ausgesuchter Haß gilt jenen Räumen, in denen die internationalen Hilfsorganisationen residiert hatten. Sie wurden – wie das amerikanische Informationszentrum – besonders gründlich zerstört.

Bereits im Sommer hatte ein Serben-Blatt die genauen Adressen der Hilfsorganisationen – vom Roten Kreuz bis zu den „Ärzten ohne Grenzen“ und dem Stuttgarter „Kinderberg“ – veröffentlicht und diese als „Spionagezentralen“ des Westens gebrandmarkt. Der Arzt aus Priština weiß außerdem von zwei zerstörten albanischen Privatkliniken und von der Verwüstung der Redaktionsräume der albanischen Tageszeitung Koha Ditore.

Den Berichten des Arztes zufolge gibt es Listen von exponierten albanischen Intellektuellen, auf die nun serbische Bewaffnete Jagd machen. An solchen Aktionen beteiligen sich Geheimpolizisten, die genau wissen, wer wo wohnt, Paramilitärs und simple Banditen, wobei die Übergänge zwischen diesen Gruppen fließend sind. Wie weit die Menschenhatz gediehen ist, vermag der Mann nicht zu sagen, da er sich selbst nicht mehr aus seiner Wohnung wagte. Als gesichert gilt, daß der Menschenrechtsanwalt Bajram Kelmendi mit seinen zwei minderjährigen Söhnen erschossen wurde, wahrscheinlich von Freischärlern der „Weißen Adler“, die auf das Kommando des serbischen Faschisten und Vize-Ministerpräsidenten Vojislav Seselj hören.

Informationen der britischen Regierung zufolge soll auch der serbische Milizchef „Arkan“ in der Nähe von Priština im Einsatz sein. „Arkan“ alias Zeljko Raznatović war nachgesagt worden, er habe sich in den Jahren 1991 bis 1995 schwere Greueltaten bei den Kämpfen zwischen Serben und Kroaten in Bosnien zuschulden kommen lassen.

Der aus Priština geflohene Arzt stammt aus der Stadt Djakovica (West-Kosovo). Von Verwandten dort habe er erfahren, daß die rein albanische Altstadt nahezu niedergebrannt, die Geschäfte vorher geplündert worden waren. 20 Albaner sollen hingerichtet worden sein. Die serbische Propagandamaschinerie verbreitet, die Stadt sei von einer Cruise-Missile getroffen worden. „Seit wann rauben Raketen ihre Ziele aus, bevor sie sie zerstören?“ fragt der Arzt.

Am Samstag morgen faßte die Familie den Entschluß zu fliehen. Das Ehepaar, eine Schwägerin, die drei Kinder und die Eltern des Mannes zwängten sich in einen Citroen. Über Umwege und nach unzähligen Kontrollen erreichten sie die Grenze zu Makedonien. Mit der Zusage, selbst wieder zurückzukehren, erreichte der Mann, daß er durchgelassen und ihm sein Geld nicht abgenommen wurde.

Trotz Erschöpfung ist die Familie froh, das nackte Leben gerettet zu haben. Wie es weitergeht, weiß niemand. „Wir hoffen nur“, sagt die Frau, „daß ein Korridor geöffnet wird, damit Frauen und Kinder rausgebracht werden können.“ Berichte von Menschenrechtsorganisationen deuten darauf hin, daß auch in den anderen Städten des Kosovo ähnlicher Schrecken herrscht.

Doch ein Großteil der 300.000 albanischen Flüchtlinge irrt immer noch innerhalb der Provinz umher. Die makedonische Regierung nahm am Wochenende Kontakt zu Griechenland, Bulgarien und Albanien auf, um anzufragen, ob diese Länder Flüchtlinge in großer Zahl aufnehmen können. Mit der drohenden Massenvertreibung der Albaner ins Ausland hätte die vom serbischen Regime angestrebte ethnische Säuberung des Kosovo eine neue Qualität erreicht. Gregor Meyer, Tetovo