■ Press-Schlag: Der TSV Größenwahn
Kürzlich war Frost im Zaubergarten der Fußballfreuden. Betrübte Kickersmänner zogen mit gesenkten Köpfen von dannen, vorbei an dem Spalier ihrer Getreuen, die ausgeharrt hatten, um den Geschlagenen Aufmunterndes zuzurufen. „Es wird wieder“, sprachen die Anhänger des TSV 1860 München, „beim nächsten Mal“, meinten sie. Kein Wort der Klage mochte ihnen über die Lippen huschen, obschon die Verkörperer ihres Selbstverständnisses schmählich versagt hatten. Nur einer bat um ein Wort des Trostes. „Peter“, fragte er den Angreifer Peter Pacult, „ihr werdet nicht aufgeben, oder? Es wird wieder so wie früher, oder?“ Da duckte Pacult sein Haupt noch tiefer, schwieg und verschwand.
Wenn Fußballer trübsinnige Wortlosigkeit befällt, ist das kein gutes Zeichen. Und Trainer Werner Lorant zerlegte am vergangenen Wochenende am Spielfeldrand ein Stadionmöbel brachial in seine Bestandteile, derweil seine Anvertrauten sich gegen Mainz 05 blamierten, vermutlich auch nicht aus purer Heiterkeit. Ist ja auch nicht lustig, was 1860 München im Fußballfrühjahr 1994 widerfährt: 0:1 bei Tennis Borussia Berlin, 0:2 gegen Mainz. Verspielt der komfortable Vorsprung auf die ebenfalls aufstiegsambitionierte Konkurrenz wegen zuletzt 1:7 Punkten. Geplatzt die Seifenblase, in der der Zweitliga-Aufsteiger wohlbehütet in die erste Bundesliga segeln wollte.
Ein Jammer. Dabei war doch alles sooo schön: Einen Präsidenten hatten sie in Karl-Heinz Wildmoser, dem Paradebajuwaren (optimistisch, bauernschlau, schwergewichtig, Wirt), der nicht nur nach Siegen zu Tränen gerührt alles und jeden niederherzte, sondern als einziger seiner Zunft Autogrammkarten verteilte. Einen Helden hatten sie in Peter Pacult, der von Österreichs Bergen herabgestiegen kam, um über die Sechziger den Fußballfrühling zu bringen. Zum Torschützenkönig der Liga ballerte sich der Alpenkicker, mutierte weiter zum Volkshelden und posierte, wie Gott ihn schuf, auf der Titelseite einer Szenepostille. Und natürlich hatten sie noch in Werner Lorant einen Trainer, dem glaubten sie seine Predigten von Disziplin und Tugend auch dann noch, als ihm schon wegen eines Vollrausches der Führerschein entzogen war. Dem folgten sie in totaler Unterwürfigkeit („Jeden Samstag laufen elf kleine Lorants auf“), und wenn er sprach: „bei mir kann jeder seine Meinung sagen, aber nur meine zählt“, dann nickten sie zustimmend. Denn betört waren sie von seiner pathologischen Erfolgsbesessenheit („In meinem Kopf ist nur Erfolg.“), von der Schlichtheit seiner Parolen: „Fußball ist Arbeit.“
Vorbei der Spuk. Kürzlich verpaßte Pacult, entnervt wegen schleppender Vertragsverhandlungen, dem Busfahrer des Mannschaftsvehikels eine Backpfeife, weil der gewagt hatte, dem Österreicher ans Ehrgefühl zu gehen. Die Nerven liegen eben blank bei 1860. Und die Harmonie ist fortgeblasen. Die Mannschaft motzt angesäuert, weil sich die Vereinsoberen erdreisteten, während der Winterpause in Seeliger (Freiburg), Kientz (Frankfurt) und Lilienberg (Trelleborg/ Schweden) Verstärkung einzukaufen. Niemand redet nun mit den Neuen, dafür wird hintenrum ordentlich gelästert.
Daß sich die Verwalter des momentanen Zwists beharrlich weigern, aus dem 1860-Märchen aufzuwachen, verheißt zudem die Rückkehr zu unheilvoller Realitätsferne. „Ganz klar“, meinte Wildmoser nach dem 0:1 gegen die Ligaschießbude Berlin, ohne dabei rot zu werden, „wir sind nächstes Jahr in der ersten Liga.“
Willkommen beim TSV Größenwahn. Die einstmals pralle Fußballfrucht ist faul geworden und droht vom Baum zu fallen. Das 1860-Volk steht derweil weiter Spalier, leidet still und hofft auf die Rückkehr des Fußballfrühlings. Pah, hat sich der jedoch anscheinend gesagt und kürzlich, nach der Niederlage der Münchner gegen Mainz, sein ehemaliges Lieblingskind Peter Pacult für sich sprechen lassen. „Den Aufstieg können wir vergessen.“ Gerhard Pfeil
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