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Premiere an der Volksbühne BerlinMaschinen voller Gnade

Zersplitterte Hochgeschwindigkeitsexistenz: Kay Voges’ rasantes Bühnen-Video-Stück „Don’t Be Evil“ feiert Premiere an der Berliner Volksbühne.

„Don't be evil“: Szenenbild mit dem Ensemble der Volksbühne Foto: Julian Röder

Berlin taz | Aber es gibt ja nichts Harmloses mehr: ein Satz, der an diesem Abend in der Volksbühne fällt. Einem Abend, der, das gleich vorweg, denkwürdig opulent aufzeigt, wie man das videografische Erbe dieses Hauses gleichermaßen würdigen und zeitgemäß übertrumpfen kann.

Dabei fängt es so gewöhnlich an. Zunächst füllt eine große Leinwand die Bühne. Auf dieser sieht man Menschen nackt und nah, so nah, dass man die Nasenhaare erkennen kann. Die Menschen, das sind natürlich die Spieler*innen, aber auch der Regisseur des Abends Kay ­Voges selbst, und sie alle eint: das Gähnen. So geht das zehn Minuten lang, Großaufnahme, Gähnen, nächste Großaufnahme, nächstes Gähnen.

Das ist ein bisschen provokant – Betonung auf „ein bisschen“ – , weil Gähnen ja bekanntlich ansteckend ist. Und wer will sein Publikum schon gleich am Anfang zum Gähnen bringen? Ganz ehrlich, genau so stellt man sich doch als hochnäsiger Hauptstädter/Volksbühnen-Gänger das Theater im Westen der Republik vor: Witzig? Bisschen. Provokant? Bisschen. Juckt? Jup.

Zum Glück entpuppt sich der flügellahme Einstieg schnell als Finte, wenn Kay Voges und sein Filmteam um DoP Voxi Bärenklau und Live-Cutterin Andrea Schumacher im Anschluss ihre Bildmaschine mit konstant zunehmender Beschleunigung in Bewegung setzen. Das Bühnenbild (von Michael Sieberock-Serafimowitsch) besteht aus ein paar gekachelten Wänden, die man so oder so ähnlich schon mal in einem Hollywoodfilm gesehen zu haben glaubt. Wände? Auch das ist eine Finte.

Nächste Aufführung

am Freitag, den 4. Oktober um 19.30 Uhr, großes Haus, Schauspiel

Jede Kachel ist eine kleine Projektionsfläche

In Wahrheit ist jede Kachel eine kleine Projektionsfläche und wird auch als solche benutzt. Zunächst zeigt die Leinwand-Bühne einige wenige davon überlebensgroß. Doch im selben Maße, wie die Inszenierung nach gemächlichem Einstieg immer mehr an Fahrt aufnimmt, wird auch die Projektionsfläche kleinteiliger und zeigt immer mehr Menschen; am Ende sind es so viele, dass man den Einzelnen nicht mehr zu erkennen vermag.

Das ist sehr konsequent, immerhin will Kay Voges mit diesem Abend das sehr hoch gesteckte Ziel erreichen, unsere zersplitterte Hochgeschwindigkeitsexistenz zwischen Instagram, Twitter und Reddit einzufangen. Ein Ziel, das er mit dem konsequenten Fokus auf ein Zuballern des Publikums durch Bild, Sound und Text auch erreicht.

Es gibt kaum einen Moment, in dem nicht mehrere Dinge gleichzeitig passieren, in dem man nicht weiß, wo man zuerst hinglotzen oder hinhören soll. Aber man hat Spaß dabei, weil das alles so gut gefilmt und geschnitten ist. Zumindest dann, wenn man an unserer vernetzten Realität manchmal auch Gefallen findet.

„Don’t Be Evil“ hantiert mit einer Vielzahl von Fremdtexten, versucht aber gar nicht erst, seinem Publikum eine kohärente Erzählung zu liefern, vielmehr werden an diesem Abend viele Erzählstränge verfolgt, von denen manche nur kurz angerissen werden, während andere immer mal wieder aufploppen. Zum Beispiel die Geschichte eines Pärchens à la Bonnie und Clyde (Vanessa Loibl und Manolo Bertling), das via Livestream von einer Geiselnahme berichtet und schließlich vor laufender Handykamera von der Polizei erschossen wird.

Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace

Zusätzlich greifen Voges und das real auf der Bühne zwischen unüberschaubar vielen Rollen überzeugend umherspringende Ensemble auf eine Handvoll historische Texte über Kommunikation und Vernetzung zurück. Angefangen mit Bertolt Brechts Ende der 1920er Jahre verfasster Radiotheorie, arbeitet man sich dann im Laufe des Abends – unter anderem auch gemeinsam mit dem Publikum – durch die „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ von John Perry Barlow.

Auf Papier gebracht, mag das alles nach anstrengender geistiger Arbeit und Überforderung und einer sechsstündigen Odyssee klingen – tatsächlich schaffen es Voges und Ensemble allerdings, all diesen Stoff in zwei Stunden zu verpacken, die einen konstant bei der Stange halten und unterhalten.

Man kann auf dieser Bühne arbeiten im vollen Bewusstsein der Vergangenheit, ohne dass diese einen erdrückt

Zwar fehlt einem dabei an mancher Stelle die Tiefe – bahnbrechende neue ­Gedanken zur Übermüdungs- und Überforderungsgesellschaft werden an diesem Abend nicht kundgetan, und der Blick auf die Gegenwart ist am Ende ein eindimensional privilegierter –, man verlässt die Volksbühne aber trotz des dystopischen Bilderwahns mit einer optimistischen Erkenntnis: Man kann auf dieser Bühne noch arbeiten im vollen Bewusstsein der Vergangenheit, ohne das diese einen erdrückt.

Rettung durch Maschinen

Nachdem Bonnie und Clyde tot sind, deutet die Inszenierung, inspiriert durch Film und ­Fernsehen, einen Lösungs­ansatz zur Rettung beziehungsweise zum Untergang (das liegt im Auge des Betrachters) des digitalisierten Abendlandes an: die Herrschaft der Maschinen. „All watched over by machines of loving grace“, steht dann in Großbuchstaben auf die Bühne geschrieben da.

Es ist der Titel eines Gedichts, das der Gegenkultur-Klassiker Richard Brautigan in San Francisco schrieb. Der Westcoast-Underground der Siebziger prägte bekanntlich auch jene Menschen, die in der Folge die Unternehmen gründeten, die heute von der Bay Area aus die Netzrealität regieren. Folgerichtig ist also der aus dem Google-­Firmencredo geklaute Titel des Abends: „Don’t Be Evil“. Was heute gut und was böse ist, das vermag dieser Abend nicht zu beantworten. Auch das ein Glück.

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  • „aus dem vormaligen Google-­Firmencredo“, denn das hat Google ersetzt.