Preisgekröntes Freilufttheater: Jahrmarkt auf unbekanntem Törö
Das Jahrmartktheater in Bostelwiebeck hat den Theaterpreis des Bundes bekommen. Diesen Sommer geht es auf Expedition in die Antarktis.
Dick eingemummelte Schauspieler:innen beginnen, von der heroisch scheiternden Antarktis-Odyssee des britischen Forschers Ernest Shackleton zu erzählen. Das Stück „Patience Camp“ funktioniert als Memento mori dessen, was der Klimawandel gerade abtaut, die Eislandschaften an den Polen, aber auch als Beispiel zur Bewältigung von Krisen wie der menschlichen Isolation – ob nun als Expeditionsteam im Packeis oder allein mit der Familie daheim wegen Corona. Beiden Kleingruppen gemein sind eine Bedrohungssituation, erhebliche Alltagsveränderungen und das Gefühl von Unkontrollierbarkeit – sodass aus leichter Unruhe starke Angst werden kann.
Aber Sein oder Nichtsein ist zumindest in der Open-Air-Produktion nicht die Frage. Geboten wird eine Geschichte vom Überleben als Auseinandersetzung mit Zivilisation, also den Formen und Werten des Zusammenlebens.
„Männer gesucht. Für waghalsige Reise. Geringe Löhne, extreme Kälte. Monatelange völlige Dunkelheit. Permanente Gefahr, sichere Heimkehr ungewiss. Ehre und Ruhm im Falle eines Erfolgs.“ Aus dieser Anzeige Shackletons klingt schon 1913 die Arroganz der Zivilisation, sich der Natur überlegen zu fühlen, sie für bezwingbar zu halten. Nicht ahnend, dass der Versuch, die Antarktis zu durchqueren, zu einem zweijährigen Horrortrip wird. Shackletons „Endurance“, zu ihrer Zeit wohl das stärkste Holzschiff, wird vom Eis zermalmt und versinkt.
Gegen Dezivilisierung
28 Männer, 49 Schlittenhunde und eine Katze zelten daraufhin weitab der menschlichen Zivilisation auf einer Eisscholle. Wie das auf einem Gehöft in der Lüneburger Heide inszenieren? Auf Scheunenbreite hängt ein Prospekt mit skizzierter Eislandschaft, zwei Musiker servieren mit Hall- und Echoeffekten prima knisternde Eismusik und das fünfköpfige Ensemble berichtet in philosophischer Verzückung, dass der Mensch angesichts der gleichgültig feindlichen Natur „von der Erkenntnis seiner Ohnmacht geradezu überwältigt werden“ könne.
Zentrale Frage: Was macht die Crew in monatelanger Nacht bei –57 Grad Celsius, wenn die Nahrungsmittel zur Neige gehen? Sie bibbert eben nicht depressiv dem Erfrieren entgegen, sondern fängt und verspeist Robben wie auch Pinguine, heizt mit deren Fett, isst schließlich auch die Hunde, wird aber nicht kannibalistisch tätig.
Gegen Verzweiflung und Dezivilisierung organisiert der Kapitän jeden Tag ein großes Arbeitspensum wie auch Kartenspiel- und Fußballturniere. Die Seeleute müssen sich von allem Ballast befreien, auch des königlichen Bibel-Geschenks, aber nicht von einem Banjo. Gilt es doch, täglich gemeinsam zu singen. Auch ihre Bücher lesen sich alle immer wieder vor und bringen jede Woche ein neues Drama zur Premiere: Kunst funktioniert im Wortsinne als Überlebensmittel. Daran labt sich das Ensemble.
Autor und Regisseur Thomas Matschoß collagiert Literaturschnipsel von und über die Abenteurer zu flottem Erklärtheater, das chronologisch rekapituliert, was bereits lückenlos erforscht ist. Überzeugend dabei, dass der Durchhaltetriumph aus heutiger Sicht hinterfragt wird. Etwa das Warum dieses Himmelfahrtskommandos. Ausbeutung und Eroberung? Noch einen Kontinent zu einer Kolonie ihrer machtgierigen Könige machen? Weil sie es zu Hause nicht aushielten?
Das sind so Thesen des Stücks, das im meist ironischen Gestus mit reichlich Theater im Theater und populären Musiknummern aufwartet und auch Witze nicht scheut wie: „Was macht der Elefant in der Antarktis? Er befindet sich auf unbekanntem Törö.“
Aber der Abend behandelt dem ausgelassenen Entertainment zum Trotz sein Zivilisationsthema mit so ernsthaftem Nachdruck, wie man es lange nicht beim Jahrmarkttheater erlebt hat. Reizvoll divers zudem, wie das Ensemble zusammengestellt ist, spielt und singt – und wie unterschiedlich es die Rolle des Kapitäns interpretiert, die reihum gereicht wird. Ein Abend als Argument für den gerade zuerkannten, mit 75.000 Euro dotierten Theaterpreis des Bundes.
Blick auf den Kolonialismus
Eine wichtige Ergänzung zum Loblied zivilisierten Verhaltens hat Matschoß mitinszeniert. Das Ensemble spielt befrackt in wackeliger Putzigkeit auch Pinguine, die Menschen als zerstörerische Eindringlinge wahrnehmen. Weiter geht der deutsch-beninische Autor mit Blick auf den Kolonialismus und seine Folgen. Philipp Awounou, zum Kommentieren des Jahrmarkttheaterprogramms angeheuerter Journalist, in seinen fürs Publikum ausgehängten Artikeln. So segensreich Errungenschaften zivilisierten Miteinanders der bürgerlichen Wertegemeinschaft in Europa funktionierten, schreibt Awounou.
„Patience Coma“: nächste Vorstellung am Sa, 7. 8., 19.30 Uhr, Jahrmarkttheater Bostelwiebeck. Fast alle Vorstellungen sind ausgebucht, Karten gibt es noch für So, 15. 8.
Passend dazu dürfen Besucher auch einen Parcours der Hochschule für bildende Künste Hamburg zum verantwortungsvollen Kritiküben absolvieren, einer Zivilisationstechnik, um positive Veränderung zu ermöglichen. So kann an der Streitschaukel das Gewicht der Argumente mit einem Diskurspartner austariert werden, vor dem Spiegel der Selbsterkenntnis sind die eigenen Standpunkte zu reflektieren, aber die ausgelegte Lektüre auf der harten Bank der Theorie wird von einer Katze bewacht. Matschoß selbst ist in einer Audiostation mit der Kritik präsent, dass ländliche Räume nur noch als Lebensmittel- und Energiefabriken, Stichwort Windräder, für die Städte genutzt werden.
Doch es triumphiert die ambivalente Hoffnung. „Das Unglaublichste erscheint mir, dass es in den ganzen zwei Jahren nicht eine einzige Prügelei zwischen den Männern gab. Nicht eine. Während zur gleichen Zeit in Europa sich fast neun Millionen Menschen im Namen ihrer Nationen abschlachteten“, heißt es im Stück. Wobei man wissen muss: Nach ihrer Rückkehr 1917 tobte die erste industrialisierte Schlachterei der Menschheit und so blieb vielen Crewmitgliedern nur, gleich weiter an die Fronten des Ersten Weltkriegs zu ziehen – in den Tod.
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