Preis der Berliner Akademie der Künste: Die Stadt als Schaltnetz
Die französische Architektin Renée Gailhoustet hat sich dem sozialen Wohnungsbau gewidmet. Nun wird sie für ihr Lebenswerk geehrt.
![Luftaufnahme einer Wohnsiedlung Luftaufnahme einer Wohnsiedlung](https://taz.de/picture/3308336/14/0318_Kunstpreis_startseite.jpeg)
Vor einigen Jahren kursierten ungewöhnliche Fotografien von Wohnsilos der Pariser Banlieues durch die sozialen Medien. Wie ein einsamer Gigant erhob sich da aus einem Wasserbassin der aberwitzig-postmoderne Säulenriegel des Architekten Ricardo Bofill in Saint-Denis. Als greise Geister treten die Türme der Cité Picasso von Emile Alliaud in Nanterre aus einer nebelverhangenen Wiese hervor.
Es sind unverstandene Kolosse am Rande der Stadt, Großprojekte des sozialen Wohnungsbaus in Paris, in der öffentlichen Wahrnehmung als No-go-Areas diffamiert. Ihre Fotografien verbreiteten sich gerade deshalb im Netz, da auf ihnen eine Architektur der großen Geste für die Minderbemittelten zu sehen ist. Denn in Frankreich, anders als in Deutschland, traut sich die öffentliche Hand im großen Maßstab das ästhetische und räumliche Experiment, auch im sozialen Wohnungsbau.
Die Architektin Renée Gailhoustet hat ihr gesamtes architektonisches Werk dem sozialen Wohnungsbau gewidmet. Sie wird dafür am Montag mit dem großen Berliner Kunstpreis der Akademie der Künste geehrt. Gailhoustet entwarf 1968 bis 1998 kühne Formen für die Bedürftigen in den Ballungsräumen um Paris.
Lange Zeit arbeitete die 1929 im algerischen Oran Geborene als Chefarchitektin der Gemeinde Saint Ivry sur Seine. Ihre Bauwerke sind nie wuchtig, sie wuchern. In Ensembles wie Le Liégat und Marat treibt der Beton von Gailhoustet mit expressiven Zacken und polygonalen Körpern wie gezüchtete Kristalle um Plätze und Passagen, klemmt sich in Nischen und an bestehende Wohntürme. Über mäandernden Fassaden hängen Ranken, Bäume wachsen auf den vorspringenden Balkonen, auch im neunten Stock.
Begrünte Terrassenhäuser
Gailhoustets begrünte Terrassenhäuser zählen manche auch zum Brutalismus, jenem betonverbundenen Architekturstil der sechziger und siebziger Jahre, der mit seinen radikalen Formen zu wagemutig ist, um heute noch massenkompatibel zu sein.
Doch Stil ist bei ihren zellenartigen Strukturen der falsche Begriff. Die wuchernden Betonpolygone formen zuallererst ein Innenleben, eine Stadt in der Stadt, sie sind mehr als nur expressive Hülle. „La ville est une combinatoire“, so der Merksatz ihres Kollegen Jean Renaudie. Frei übersetzt: „Die Stadt ist ein Schaltnetz.“
Renée Gailhoustet
Und so verschalteten die beiden in den siebziger Jahren – Gailhoustet in ihrer Funktion als Chefarchitektin von Ivry und Renaudie in seiner Rolle als ausführender Architekt – die polygonalen Betonzellen zu einem Gebäudesystem, in dem sich Wohnen, Einkaufen, Arbeiten und Freizeit zu einem Organismus zusammenfügen.
Öffentlich zugängliche Passagen schlängeln sich durch ihre Bauten und münden in begrünten Terrassen. Polygone gruppieren sich um Lichthöfe. Ateliers, Schulen, Bibliotheken und Geschäfte schließen sich den Patios an. Darüber und darunter treiben private Wohnungen aus, stets mit Terrassenzugang. Renaudie verstarb 1981, Gailhoustet arbeitet seine Ideen seitdem weiter aus.
Während in Deutschland heute nur vereinzelt über neue Formen des Zusammenwohnens nachgedacht wird – man denke etwa an das Genossenschaftsprojekt San Riemo in München und die Experimente zum zirkulären Wohnen vom Büro Hütten&Paläste in Berlin –, lieferte Gailhoustet mit ihrer wuchernden Architektur bereits in den Siebzigern ein progressives Wohnmodell im großen Maßstab.
Architektonische Revolte
Die Polygone setzte sie aus vorgefertigten Betonmodulen zu verwinkelten Wohnungen zusammen. Jedes Apartment mit eigenem Grundriss. Nischen und wenige Träger geben ein freies Inneres vor, in dem frei entscheidbar ist, wo Tisch und Bett platziert werden.
In den Siebzigern waren Gailhoustets offene Grundrisse auch eine architektonische Revolte gegen das bürgerliche Apartment, gegen eine feste Funktionsaufteilung des Wohnraums und das Diktat, wie man ihn zu nutzen hat. „Eine meiner Wohnungen hat jemand über und über mit Aquarien vollgestellt“, erzählte Gailhoustet einmal in einem Interview mit dem Radiosender France Culture. „Das fand ich toll, auch wenn ich das niemals selbst so machen würde.“
Ihr letztes Terrassenhaus, das Ensemble Marat, stellte Gailhoustet 1986 fertig. Das öffentliche Interesse an ihrer Architektur war zu dem Zeitpunkt bereits abgeebbt. Die postmodernen Kolosse eines Ricardo Bofill – heute selbst wieder gefährdet – dominierten den Diskurs um einen Wohnungsbau in Frankreich, wie die Gailhoustet-Spezialistin Bénédicte Chaljub in ihren Forschungen betont.
In der aktuellen Wohnungsfrage aber werden die Ideen der mittlerweile 89-Jährigen wieder relevant. Was fehle ihr an der heutigen Architektur, wurde Gailhoustet dann auch kürzlich in dem Interview des Radiosenders France Culture gefragt. „Generosität“, antwortete sie dann. Man müsse beim Wohnungsbau „wieder über Schönheit und Genuss reden, nicht nur über Notwendigkeiten“.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!