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Präventionsprogramm für BenachteiligteHebammen helfen gegen Depressionen

Bremer Wis­sen­schaft­le­r:in­nen evaluierten ein Hausbesuchsprogramm für benachteiligte Familien. Fünf Jahre später fanden sie noch positive Effekte.

Hebammen und So­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen kommen zu den jungen Müttern nach Hause (Symbolbild) Foto: Marcel Kusch/dpa

Bremen taz | Der frühen Förderung von Kindern in herausfordernden Lebenslagen hat sich die 2006 in Bremen gegründete Stiftung Pro Kind verschrieben. Jetzt zeigt eine wissenschaftliche Publikation in der US-amerikanischen Fachzeitschrift für Kinderheilkunde, JAMA Pediatrics, dass dieses präventive Hausbesuchsprogamm in der Schwangerschaft und den ersten zwei Jahren nach der Geburt langfristig positive Auswirkungen auf sozial benachteiligte Familien hat.

So zeigten laut der Studie Kinder im Vergleich mit einer Kontrollgruppe ohne Hausbesuche im Alter von sieben Jahren weniger internalisierende Verhaltensprobleme wie Depressionen oder Angststörungen – und zwar unabhängig davon, ob sie ausschließlich von einer Hebamme besucht wurden oder ab dem zweiten Lebensmonat von einer Sozialarbeiterin oder einem Sozialarbeiter.

Wurden sie zwei Jahre nur von einer Hebamme begleitet, wurden weitere Effekte beobachtet. Zum einen war die psychische Gesundheit der Mütter besser als bei denen in der Kontrollgruppe und ihre Lebenszufriedenheit höher. Zudem zeigten sie seltener schädliches Verhalten gegenüber ihren Kindern. Bei denjenigen, die von einem Tandem aus Hebamme und Sozialarbeiterin besucht worden waren, konnten solche positiven Auswirkungen nicht fest- gestellt werden.

Die Au­to­r:in­nen der Studie vom in Bremen ansässigen Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (Bips) nehmen an, dass dies daran liegt, dass eine gute andauernde Beziehung zwischen der Mutter und ihrer Besucherin der entscheidende Wirkfaktor ist. Zudem würde Hebammen in Deutschland mehr Vertrauen entgegengebracht als Sozialarbeiter:innen, die mit negativen Erfahrungen mit Jugendämtern in Verbindung gebracht werden.

Keine Angst vor Hebammen

„Hebammen werden nicht als Kontrolle empfunden und ohne Bedenken in die Wohnung gelassen“, sagt Christine Sellschopp, die Pro Kind in Bremen leitet. Bremen und Braunschweig sind die einzigen Kommunen von ursprünglich 15 in Bremen, Niedersachsen und Sachsen, die das Programm nach der sechsjährigen Modellphase übernommen und finanziert haben.

Die Sozialpädagogin Christine Sellschopp ist von Anfang an dabei. Als ausgebildete Hebamme und Familienhebamme hat sie bis 2022 selbst Hausbesuche gemacht. Für 130 Familien ist derzeit Geld da. Sie leben in allen Teilen der Stadt. Die Voraussetzung für die Aufnahme ins Pro-Kind-Programm ist, dass es sich um das erste Kind handelt, die Familie von wenig Geld leben muss und es eine weitere Herausforderung gibt wie Fluchterfahrung oder alleinerziehend zu sein.

In Bremen arbeiten ausschließlich Hebammen mit den Familien, in Braunschweig sind es Sozialpädagoginnen und Hebammen. Alle Fachkräfte durchlaufen eine Schulung, zu der auch kultursensibles Arbeiten gehört, erzählt Sellschopp.

Jeder Besuch verlaufe nach einem bestimmten Muster, sagt sie. „Es handelt sich um Familien mit wenig Struktur, die bringen wir mit hinein.“ So stehe am Anfang die Frage danach, was aktuell anliegt. Dem folge ein Thema, das die Hebamme mitbringe, und bei dem es immer darum gehe, die Beziehung zwischen Mutter und Kind zu stärken, vielleicht mittels einer Spielidee.

Die psychische Gesundheit der Mütter war besser als bei denen in der Kontrollgruppe

Zum Schluss gebe es eine kleine Aufgabe, zum Beispiel nach einer Mutter-Kind-Gruppe zu suchen. „Vielen fällt dieses Vernetzen schwer, wir können sie zum ersten Treffen auch begleiten“, sagt Sellschopp.

Der Kerngedanke sei immer ein Fördern dessen, was gut läuft. „Wenn das Kind viel vor dem Fernseher sitzt, um Deutsch zu lernen, dann erkennen wir diese gute Absicht an.“ In einem zweiten Schritt könne man Bücher zum Vorlesen vorschlagen.

Sellschopp sagt, sie staune immer wieder, was die Eltern unter schwierigen Bedingungen, teils mit eigener Gewalterfahrung und Vernachlässigung in der Kindheit, für ihre Kinder schaffen. „Sie wollen es alle gut machen.“ Gleichwohl gebe es auch immer mal wieder Fälle, in denen wegen Kindeswohlgefährdung interveniert werden müsse.

Die For­sche­r:in­nen werden Mütter und Kinder noch einmal befragen, wenn die Kinder im Alter von 13 Jahren sind. Dann werde es auch um Schulleistungen gehen. Dies sagt Tilman Brand, Leiter der Fachgruppe Sozialepidemiologie am Bips und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Pro Kind, der taz.

Langzeiteffekte selten beobachtbar

Er sei gespannt, ob sich dann immer noch Effekte messen lassen würden. „Es kommt sehr selten vor, dass man fünf Jahre nach Ende eines Präventionsprogramms noch Langzeitwirkungen erkennen kann“, sagt Brand. Dies liege daran, dass es einfach zu viele verschiedene Einflüsse auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen gebe.

Das Programm Pro Kind hat eine in den USA entwickelte Präventionsmethode, die Nurse Family Partnership (NFP), an deutsche Verhältnisse angepasst. Für die aktuelle Studie wurden zwischen 2006 und 2009 die Daten von zunächst 755 schwangeren Frauen aufgenommen und in einem randomisierten Verfahren in Interventions- und Kontrollgruppen aufgeteilt.

Zwischen 2015 und 2017 wurden 525 Mütter und Kinder in ausführlichen Interviews befragt. Nach Angaben des Bips handelt es sich bei der Untersuchung um die größte ihrer Art in Deutschland.

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