Präsidentenkandidatin Gesine Schwan: Wider das Unterkomplexe
"Ein anderes Amt interessiert mich nicht": Würde Gesine Schwan Bundespräsidentin, es wäre auch ein Sieg gegen Politklischees.
An einem Sonntag, um 17 Uhr, geht Gesine Schwan den Bahnsteig 8 des Hamburger Hauptbahnhofs entlang. Sie trägt einen langen schwarzen Mantel und zieht einen kleinen Rollkoffer hinter sich her. Es ist sehr kalt, bestimmt unter null Grad. Sie geht schnell, und niemand sieht sie, sie ist allein. Ein paar Tage später sagt Schwans Referent, ein junger Mann mit Hornbrille und gut sitzendem Anzug, während eines Mitarbeitergesprächs, das in ihrem Büro in der Humboldt-Viadrina School of Governance in Berlin-Mitte stattfindet, dass es ihm lieber wäre, wenn sie nicht mehr abends allein mit dem Zug fahre.
Gesine Schwan sagt, das sei sehr aufmerksam von ihm, aber das gehe schon in Ordnung, und blättert weiter in ihren Unterlagen vor sich auf dem Tisch.
Er meine damit, dass lieber jemand sie begleiten sollte, denn sonst steht in der Zeitung wieder, dass Gesine Schwan Sonntagabends allein über einen Bahnsteig eilt, und daraus wird dann immer der Schluss gezogen, sie erhalte keine Unterstützung aus der SPD.
Gesine Schwan sieht kurz auf und sagt so etwas wie: Na ja, gut, okay.
Inzwischen hat sie sich daran gewöhnt, dass es in der Politik um Selbstdarstellung und nicht um intellektuelle Feinheiten geht. Trotzdem lässt sie es sich nicht nehmen, an einem Abend im Januar in ihrem Vortrag, den sie im evangelischen Gemeindehaus von Berlin-Nikolassee über das Thema "Vertrauen" hält, Niklas Luhmann und Thomas Hobbes zu zitieren und Immanuel Kants drei Maximen der Weisheit zu benennen (selbst denken, sich in die Stelle jedes anderen denken, jederzeit mit sich selbst einstimmig denken).
Der Raum des Gemeindehauses ist freundlich, mit blauen Stühlen, Parkett und hohen Fenstern. Auf den Fensterbänken wurden Teelichter aufgestellt. Es ist nicht gerade gut geheizt, aber es gibt Rotwein. Schwan hält die vierzigminütige Rede ohne Manuskript. Sie erläutert den Begriff des Vertrauens unter politischen, psychologischen und theologischen Aspekten und sagt dabei insgesamt vielleicht zweimal "ähm".
Im Publikum herrscht konzentrierte Stille. Hinterher werden Fragen gestellt. "Der Bürger ist kein Zuschauer. Jeder systematische Misserfolg von Parteien ist auch der Misserfolg der Gesellschaft", antwortet Gesine Schwan auf die Frage eines Zuhörers.
Eine Frau sagt nach der Veranstaltung zu ihrem Mann, der ihr in den Mantel mit Pelzbesatz hilft: "Sie hat eine so klare Diktion".
In der bildungsbürgerlichen Enklave Nikolassee herrschen für die Politologieprofessorin Gesine Schwan ideale Bedingungen, aber sie scheint grundsätzlich davon auszugehen, dass eine gewisse Komplexität das Gespräch belebt.
Natürlich denken nicht alle Berufspolitiker so, viele meiden das Komplizierte, aus Furcht vielleicht, man könnte sie für abgehoben halten oder dass man ihnen das Wort im Mund herumdreht, wenn ihre Aussagen nicht eindeutig und nicht auf Anhieb verständlich sind.
In der Urania, einem traditionellen Westberliner Veranstaltungshaus in der Nähe des Kurfürstendamms, stellt Gesine Schwan ihr neues Buch vor und unterhält sich darüber in einem moderierten Gespräch mit Franz Müntefering. Er trägt gekonnt aufeinander abgestimmte Brauntöne, Schuhe, Krawatte, Hemd. Im Sitzen schlägt er die Beine nicht übereinander. Auf die Fragen der Moderatorin antwortet er, indem er in das Politikerstakkato verfällt, bei dem jedes Wort betont wird. In der einen Hand hält er das Mikro, mit der anderen macht er eine Bewegung, als wollte er mit der Handkante irgendetwas festhämmern.
Es geht um die Finanzkrise. Er sagt: "Wir von der SPD haben uns nie mit den Dingen abgefunden. Darauf kommt es an, daran wollen wir arbeiten."
Gesine Schwan sagt, sie habe festgestellt, dass es an deutschen Universitäten zu wenige Lehrstühle für historische Wirtschaftswissenschaft gibt und dass es sich spätestens jetzt zeigt, wie wichtig es ist, auch Wirtschaftslehren zu historisieren. Aus der Krise von 1929 könne man schließlich viel lernen.
Nach der Veranstaltung bildet sich vor dem Tisch, an dem Gesine Schwan ihr Buch signiert, eine lange Schlange. Man kann dort auch einen Button kaufen, auf dem steht: "Gesine Schwan - Präsidentin für uns", daneben ist die Zeichnung eines kleinen Schwans abgebildet.
Als die meisten Leute schon gegangen sind, es ist nach 22 Uhr, gibt Gesine Schwan dem ZDF noch ein Interview. Neben der Kamera stehen ihr Büroleiter, ihr Referent und ihr Pressesprecher und hören aufmerksam zu. Sie beugen den Oberkörper vor, gerade so weit, dass sie nicht ins Bild ragen.
Im Mai möchte Gesine Schwan zur Bundespräsidentin gewählt werden; die Mehrheiten in der Bundesversammlung sind knapp, aber die Chancen stehen gegen sie. Bekäme sie eine Mehrheit, wäre es tatsächlich das erste Mal, dass eine Bundesversammlung einen Amtsinhaber abwählt.
Überhaupt sollte die Wahl zum Bundespräsidenten nach Möglichkeit ohne großen Streit ablaufen. Das Amt ist keines, das man sich in einem Wahlkampf erstreitet. Die Parteien, die die Mehrheiten in den Parlamenten haben, tragen es einer verdienten Persönlichkeit an. Niemand hat bisher an den eisernen Gitterstäben gerüttelt, die den Garten von Schloss Bellevue einzäunen. Gesine Schwan ist die Erste.
Es war ihre Idee, wieder zu kandidieren. "Ein anderes Amt interessiert mich nicht", sagt sie. Sie sitzt in ihrem Büro in der School of Governance. Ihr großer Schreibtisch nimmt die Hälfte des Raumes ein, ordentlich stapeln sich Papier und Bücher darauf. Von ihr war im letzten Jahr die Initiative für die Kandidatur ausgegangen. Sie hat die SPD wissen lassen, dass sie gern ein zweites Mal antritt. "Diese Kandidatur ist bewusster und überlegter als die von 2004." Damals hatte Gerhard Schröder sie gefragt und ihre Kandidatur verkündet, noch bevor sie überhaupt richtig zugesagt hatte. Sie war gerade in den USA. Es gibt viele Fotos von ihm und Gesine Schwan, beide laut lachend, mit oder ohne Blumenstrauß, er hält ihre Hand. Von Frank-Walter Steinmeier und Gesine Schwan gibt es aus den letzten Monaten ein Foto. Er überreicht ihr eine goldene Skulptur in Form einer Taube (ein Künstlerprojekt), und während sie, wie eigentlich immer, strahlt, legt er etwas schüchtern die Hände um die kleine Taube. Die große Koalition in Berlin sollte, das wäre wohl allen recht, noch bis zur Bundestagswahl im September halten.
Zusammen mit ihrem Mann Peter Eigen, der Anfang der neunziger Jahre die NGO Transparency International ins Leben rief, sitzt Gesine Schwan im Gründungsteam der Humboldt-Viadrina School of Governance. Die School ist eine gemeinsame Einrichtung der Berliner Humboldt-Universität und der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder, wo Gesine Schwan bis letzten Juli Präsidentin war. Im Jahr 2009 wird der praxisorientierte Studiengang Master of Public Policy den Studienbetrieb aufnehmen. Es gibt eine große interdisziplinäre Fachbibliothek zum Thema Zivilgesellschaft und Philanthropie. Im Beirat sitzen Kofi Annan, Richard von Weizsäcker und der Generaldirektor der Welthandelsorganisation Pascal Lamy.
"Governance basiert heute auf einer breiteren Vielfalt an Institutionen, und neben der Politik sind auch Wirtschaft und Zivilgesellschaft zentrale Akteure. Häufig jedoch agieren die drei Sektoren unverbunden nebeneinander", heißt es auf dem Faltblatt, das am Eingang des Gebäudes ausliegt.
Die Kommunikation zwischen Politik und Gesellschaft, das ist das Thema, das die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan vor allem interessiert. In welcher Form äußern sich die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen? Und wie können diese verschiedenen Formen der politischen Äußerung - die Vereine und Verbände, die NGOs, die Bürgerinitiativen, die sozialen Bewegungen, der politische Protest - in den Entscheidungsprozess integriert werden? Wie muss ein politisches System arbeiten, damit diejenigen, die darin leben, darauf vertrauen, dass ihre Bedürfnisse und Vorstellungen repräsentiert werden?
Vielleicht möchte Gesine Schwan mit ihrer Kandidatur die Erkenntnisse ihres Forschungsthemas in die Praxis umsetzen. In ihrem Verständnis spielt der Bundespräsident jedenfalls eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, zwischen Politik und Gesellschaft zu vermitteln. Das Amt des Bundespräsidenten ist ein kulturelles, kein instrumentelles, sagt sie. Der Bundespräsident kann entscheidenden Einfluss auf die politische Kultur des Landes haben, indem er sich darum bemüht, Vertrauen in die politischen Institutionen herzustellen.
Vertrauen, das klingt nett. Überhaupt ist Gesine Schwan eine freundliche Person. Sie legt ihrem Gegenüber beim Sprechen manchmal die Hand auf den Arm oder auf die Schulter. Nach dem Vortrag im Gemeindehaus in Nikolassee tritt eine Frau zu ihr, Gesine Schwan drückt sie an sich und fragt: "Wie geht es deinem Kind?" Freundliche Menschen, und vor allem freundliche Frauen, werden ja schnell unterschätzt.
Gesine Schwan selbst spricht davon, dass der Bundespräsident eine "Kommunikationsaufgabe" hat und dass in einer Demokratie das Gemeinwohl sich im Kompromiss der unterschiedlichen Kräfte ergibt. So sprechen Politikwissenschaftler: Sie finden auch für emotionale Themen, für die großen politischen Schwierigkeiten der Zeit, eine analytische Sprache.
Aber wo außerhalb der Uni versteht man diese analytische Sprache?
Zuletzt konnte man jedenfalls in der Zeitung lesen, dass Gesine Schwan Horst Köhler "attackiert" habe, oder dass sie "vermessen" sei und "nervig". Und Peter Ramsauer, der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, sagt, Gesine Schwans Herangehensweise kann "die deutsche Gesellschaft" doch nur als "Bedrohung" empfinden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen