Postkolonialismus in der Kunst: „Verlernen von Vorurteilen“

Kampnagel blickt mit einem Festival auf postkoloniale Fragen. Die Intendantin Amelie Deuflhard und die Kuratorin Melanie Zimmermann im Gespräch

Whitefacing? Postkolonialismus in der Kunst. Foto: Eric Wurtz

taz: Amelie Deuflhard, Melanie Zimmermann, zum Auftakt der Spielzeit auf Kampnagel beschäftigt sich das Festival „We don‘t contemporary“ mit Postkolonialismus in der Kunst. Warum ist das wichtig?

Amelie Deuflhard: Seitdem Tausende Flüchtlinge aus ehemaligen Kolonien nach Europa kommen, ist das Thema wichtiger denn je. Als die Kolonien aufgegeben wurden, wurden sie politisch frei, aber es gibt weiterhin einen deutlichen Einfluss der westlichen Welt. Es gibt eine enorme wirtschaftliche Dominanz, aber auch eine in der Kunst, für die der Markt immer noch in Europa liegt.

Was bedeutet das für nicht-europäische Künstler?

Deuflhard: Bei ihnen gibt es einen starken Fokus auf die Frage: Wie muss ich arbeiten und mich anpassen, damit ich fit werde für den europäischen Markt? Das bezieht sich auch auf das Bewegungsrepertoire. In afrikanischen Ländern zum Beispiel bewegen sich Tänzer eigentlich anders. In dem Moment, wo es nach Europa geht, gibt es die Tendenz, sich anzugleichen und von Europa zu lernen.

55, leitet seit 2007 die Kulturfabrik Kampnagel. Zuvor war sie etwa Chefin der Berliner Sophiensaele.

34, ist Tanzdramaturgin, kuratiert das Live Art Festival und hat vorher für den Choreografen Laurent Chétouane gearbeitet.

Wieso kritisieren Sie den Begriff des Zeitgenössischen in der Kunst und damit ja auch die Idee von Entwicklung und einer eindeutigen Richtung des Lernens?

Deuflhard: Auf europäischen Tanz- und Choreografieschulen lernen Künstler, was wir Europäer unter Zeitgenossenschaft verstehen. Hier kommt der Begriff her und sie passen sich an. Wir versuchen, diesen Prozess zu unterbrechen und gucken: Wo sind interessante Künstler, die auf der Basis ihrer Traditionen eine eigene Zeitgenossenschaft entwickelt haben? Das ist ein ganz anderer Ansatz und wir wollen auch von ihnen lernen.

Kuratieren Sie das Festival deshalb nicht allein?

Deuflhard: Genau, wir haben mit Kokuratoren aus unterschiedlichen Ländern zusammengearbeitet. Wir sind vor allem in Tunesien, Marokko und Westafrika gewesen und haben uns ausgiebig mit der künstlerischen Szene dort, aber auch mit den Produktionsstrukturen beschäftigt.

Melanie Zimmermann: Unsere Kokuratoren aus Tunesien, Burkina Faso oder Ghana kennen sich in ihren Ländern natürlich viel besser aus und setzen sich in ihrer Kunst ausdrücklich mit dem Begriff des Zeitgenössischen auseinander. Denn sie erleben es als eine Art Gefängnis, immer zu fragen: Was ist traditionell, was ist zeitgenössisch? Es sind Künstler, die eine sehr persönliche Handschrift haben. Und sie haben ein Problem damit, als Künstler auf ihre Herkunft reduziert zu werden.

Welche Strategien haben diese Künstler entwickelt, um mit diesem Herkunfts-Labeling umzugehen?

Deuflhard: Sie schaffen sich eigene Netzwerke und werden so autonomer. Ein solch informelles Netzwerk ermöglicht einen anderen Auftritt, sie können Künstler untereinander empfehlen und fokussieren sich auf Arbeiten, die sie selbst entwickelt haben. Sie wollen ihre Stücke nach Europa bringen, aber nicht, indem sie sich an europäische Stile anpassen.

Zimmermann: Das Choreografenpaar Aïcha M’Barek und Hafiz Dhaou zum Beispiel hat ein Netzwerk entwickelt, das von Marokko über Ägypten bis in den Libanon reicht. Der Film- und Tanzkurator Alex Moussa Sawadogo wiederum berät das Internationale Filmfestival von Locarno und hat in Berlin das Festival „Afrikamera“ entwickelt. Er ist gut vernetzt und hat mit uns gemeinsam ein Filmprogramm zusammengestellt, das auf das Festivalthema reagiert und trotzdem eigene Handschriften reinbringt.

Welche Rolle spielt da der Kolonialismus?

Zimmermann: Aïcha M’Barek und Hafiz Dhaou haben gemeinsam mit uns auch eine Konferenz entwickelt. Zusammen mit Mariem Guellouz, einer Kuratorin aus Tunesien, haben wir das Programm gestaltet. Dort wird zum Beispiel die portugiesische Theoretikerin und Künstlerin Grada Kilomba darüber sprechen, inwiefern die Sprache immer ein Zeichen kolonialer Macht ist. Aber etwas vermitteln zu wollen, widerspricht eigentlich dem Konzept. Die Frage ist ja: Wer lernt etwas von wem? Es geht eher um ein Verlernen von Vorurteilen. Dafür wollen wir erst mal grundsätzlich sensibilisieren.

Deuflhard: Das Thema ist kompliziert, aber wir haben Arbeiten im Programm, die auf einer sinnlichen Ebene gut transportierbar sind. Es ist kein Theorie-Kunst-Programm. Der südafrikanische Regisseur Brett Bailey etwa verlegt Verdis Oper „Macbeth“ in den Bürgerkrieg im Kongo. „Macbeth“ ist großes sinnliches Musiktheater, aber von Brett Bailey so inszeniert, dass das Stück für europäische Sehgewohnheiten durchaus ungewöhnlich, aufwühlend, aber gleichzeitig auch sehr berührend ist.

Zimmermann: Wir sehen eine andere Körperlichkeit, auch wenn die Tänzer nicht versuchen, typisch kongolesisch oder typisch südafrikanisch zu sein. Bouchra Ouizguen wiederum – eine der bekanntesten Choreografinnen Marokkos, die die erste zeitgenössische Tanzcompagnie dort gegründet hat – wird in einem Workshop zu ihren zehn marokkanischen Tänzerinnen noch Hamburgerinnen dazuholen, die Lust haben, eine ebenso archaische wie zeitgenössische Bewegungssprache zu lernen. Die Vorstellung „Corbeaux“ werden sie gemeinsam im Kampnagel-Foyer vor dem wartenden Publikum aufführen.

In welchem Zusammenhang steht die aktuelle Flüchtlingskrise mit postkolonialen Fragen?

Deuflhard: Es gibt kein Thema, bei dem lokale und globale Probleme so eng miteinander verbunden sind wie beim Flüchtlingsthema. Wir bearbeiten es seit mehreren Jahren intensiv, unter anderem mit der „Ecofavela“.

Der Nachbau der Roten Flora auf dem Kampnagel-Gelände, in dem fünf Flüchtlinge den vergangenen Winter verbracht haben.

Genau und wir werden das Thema auch in dieser Spielzeit systematisch mit unterschiedlichen Produktionen weiter begleiten. Dieses Thema wird uns auch in den nächsten 20 Jahren noch beschäftigen und als Kunst­ort haben wir die Möglichkeit, die Diskussion darüber immer wieder anzustoßen.

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