Portrait Reinhard Erös: Der Taliban-Flüsterer
Reinhard Erös ist Arzt, Soldat und bayerischer Gemütsmensch und kennt überdies noch Afghanistan wie seine Westentasche. Und er hat schon vor vielen, vielen Jahren mit den Taliban verhandelt.
Über zwei Stunden lang hat Reinhard Erös geredet. Es ist sein zehnter Vortrag diese Woche. Das kalte Licht des Alten Auditoriums der Universität Göttingen beißt kurz vor zehn Uhr abends in den Augen. Nach so einem langen Bildervortrag möchte mancher aus dem Publikum auch einmal etwas sagen.
Raschid zum Beispiel ist betrübt über den Zustand seines Landes. Er meldet sich und hebt an: "Ich bin in Afghanistan geboren …" Oh nein, so etwas - jetzt nicht. Nicht mit Erös. "Ich höre mir jetzt doch kein Referat über Afghanistan an! Stellen Sie eine Frage!", schnauzt er den Mann an. Dieser hat immerhin die Wäschewanne voller Bücher über Erös Afghanistan-Abenteuer mit hergetragen, damit sie verkauft werden können. Er sagt, er komme sofort zu seiner Frage, aber … - keine Chance.
"Nee! Ende!" Erös mächtiger Leib im schwarzen Pulli bebt, er greift seine Tasche sowie seine formlose Lederjacke und steuert auf die Hörsaal-Tür zu. Doch da fängt ein anderer Zuhörer seine Aufmerksamkeit ein, der - das Publikum atmet auf - knapp genug fragt: Ob Erös schon an die Nutzung von Solarthermie für Warmwasser in Afghanistan gedacht habe? Nein. "Aber machen Sie es, fahren Sie hin!", ruft Erös. Und: "Lachen Sie nicht so. Das mag ich nicht!"
Nur auf privaten Spenden beruhend gründeten Reinhard und Annette Erös 1998 ihre "Kinderhilfe Afghanistan", für die sie jährlich rund sechs Mal dorthin reisen und die Projekte einweihen und besuchen. Die kleinen Büros der Kinderhilfe im pakistanischen Peshawar und im afghanischen Dschalalabad werden längst von Muhammad Alem Janna Shahb betrieben, einem langjährigen Freund der siebenköpfigen Familie Erös. Für ihr Engagement haben Erös bereits viele Preise erhalten, darunter das Bundesverdienstkreuz und den Marion-Dönhoff-Förderpreis. Die größte Aktion des vorigen Jahres war die Ausstattung von drei Bergdörfern mit Fotovoltaik-Kleinanlagen und Solarkochern. Dieses Jahr werden eine weitere Jungen-Oberschule für 3.000 Schüler, ein Waisenhaus und eine gemischte Berufsschule eingeweiht.
Einen Augenblick später, bei Wein und Spaghetti, die der gelernte Arzt und Soldat Erös kleingeschnitten vom Teller abräumt, ist er schon wieder ganz bayerischer Gemütsmensch. Raschid wird nachher sagen, nein, er sei jetzt nicht sauer - "Afghanistan, das ist so wichtig, Herr Erös hat so viel getan …"
Reinhard Erös duldet generell wenig Widerspruch. Eine falsche Frage, und schon werden die Augen schmal und die Stimme laut. "Es gibt keine dummen Fragen, aber Dümmlinge, die Fragen stellen!" Ganz sicher aber duldet Erös kaum einen anderen Afghanistan-Experten neben sich. Warum auch? Er beweist seit 25 Jahren, wie gut er das Land kennt, wie sehr er es liebt und wie viel er dort bewegt. Erös hat mit seiner Frau Annette die "Kinderhilfe Afghanistan" aufgezogen. Mittlerweile sind auch die erwachsenen fünf Kinder mindestens Teilzeit-eingespannt. Veit ist 30, er wird den Laden einst übernehmen, sagt der 62-jährige Erös.
Seit 1998 baut und betreibt die "Familieninitiative" vom kleinen Mintraching bei Regensburg aus ausschließlich aus privaten Spendengeldern Schulen, Kliniken und inzwischen auch ein zweites Waisenhaus im Osten Afghanistans - dort, wo die Paschtunen leben, das Volk, aus dem sich die Taliban und die Aufstandsbewegung gegen die internationalen Truppen rekrutieren.
Staatliches Geld will Erös nicht haben: "Von Leuten, die nur sagen: ,Kommen Sie zu unseren Bürozeiten wieder, und sechs Durchschläge bitte' - pah!" Seinen Spendern verspricht Erös, dass jeder Cent die Projekte in den Ostprovinzen Nangahar, Chost und Laghman erreicht. Unzählige Bilder hat er in seinem Laptop von afghanischen Kindern bei Schuleröffnungen, von jungen Frauen vor den Monitoren in den neuen Computerschulen in Dschalalabad und Eslamabad, alles soweit möglich besorgt mit Kräften vor Ort. Und mit Zustimmung der Taliban.
"Wenn Dorfälteste auf mich zukommen und sagen: ,Bau uns auch eine Schule', dann sage ich: ,Habt ihr mit den Taliban gesprochen? Nee? Dann holt die her, ohne die bauen wir gar nichts.'" Das ist auch die Botschaft im Titel seines ersten Buchs "Tee mit dem Teufel": Wer in der Hölle arbeitet, muss ab und zu mit dem Teufel ein Tässchen Tee trinken. Möglicherweise schleift sich bei jemandem, der als Arzt schon gegen die Sowjettruppen Mitte der 1980er-Jahre im Elend Ostafghanistans um Menschenleben gekämpft hat, die Definition von "Teufel" ab.
Doch trotz seiner bemerkenswert kurzen Zündschnur bis zum jeweils nächsten Wutanfall ist Erös ja vor allem eines: ein Realpolitiker. Vielleicht, wenn man seine schier unglaublichen Abenteuer in den beiden Büchern nachliest, ein Realpolitiker mit leichtem Hang zum vermeintlich Unmöglichen.
Geschickt variiert Erös seinen Afghanistan- und Werbevortrag je nach Publikum. Vor Studierenden der katholischen Hochschulgemeinde setzt er den Akzent auf christliche Motivation und liefert Zahlenkolonnen darüber, was ein US-Entwicklungshelfer in Afghanistan verdient im Vergleich zu afghanischen Medizinprofessoren.
Vor Gymnasiasten in Berlin lässt er das weg und trichtert ihnen ein, dass sie das Politikmachen nicht den Mittelmäßigen überlassen dürfen. Vor Polizisten, Soldaten und Geheimdienstlern in Hannover ("Schalten Sie sofort Ihre Mobiltelefone aus!") zeigt er das Bild von sich mit ihrem Dienstherrn, dem Innenminister Thomas de Maizière: ein guter Kumpel aus alten Tagen, offenbar kein Mittelmäßiger. Die Uniformierten sollen gleich wissen, dass Erös einer von ihnen ist, und zwar ein Besonderer.
Thomas de Maizière gehört zu Erös vorzüglichen Kontakten aus Studienzeiten. Genussvoll breitet Erös gegenüber Journalistinnen, die politisch nicht ganz auf seiner Linie sind, eine seiner Lieblingsanekdoten aus dem Medizinstudium aus. 1972, als die Studentenrevolte auch die Freiburger Universität erreicht hatte, "drangen dann diese Marsianer auch in unsere Vorlesung ein und wollten über Vietnam diskutieren".
Erös war vorm Studium "Fernspäher" bei der Bundeswehr gewesen, gehörte also einer spezialisierten Aufklärungseinheit an, die später im Kommando Spezialkräfte (KSK) aufging. Einem Fernspäher-Offizier aber zwinge man kein "linkes Politgelaber" in der Physiologievorlesung auf. Denen habe er es aber gezeigt. "Nasenbeine und Frontzähne gingen drauf, aber es hat sich gelohnt!"
Gegen den "Affenzirkus" der Linken, aber auch gegen die blutleeren, schleimkonservativen Nichtskönner bei den Burschenschaften gründete Erös die "Liste Unabhängiger Studenten". Später war er auch beim RCDS - "wir hatten die hübschesten Mädchen!" -, war auch ein Jahr Wahlkampfmanager eines CDU-Abgeordneten. Parteiklüngelpolitik hat ihn dann aber angeekelt.
Über Erös Frauenbild müsste der Mantel postfeministisch-barmherzigen Schweigens gedeckt werden, wenn nicht so deutlich wäre, dass Erös Männerbild ihm den Zugang zur afghanischen Kriegergesellschaft erleichtert. Geradezu singend erzählt er in der Berliner Schulaula vom brutalen afghanischen Volkssport Bushkasi, dem "Ziegenzerren": Lederpeitschen zieht man dem Gegner durchs Gesicht, um ihm den Ziegenkadaver vom Pferd aus abzujagen. "Das sind noch Männer!", ruft er den Berliner Schülerinnen zu - die verlegen ihre Haarsträhnen zwirbeln, auf ihre Trend-Turnschuhe gucken und offensichtlich denken: Geschmackssache.
"Fast pathologisch widerstandswillig" nennt Erös die Paschtunen. Er knüpft damit an die Historiensaga vom unbesiegbaren, unkontrollierbaren Afghanistan, dem Friedhof der Supermächte, an. Die Glaubwürdigkeit und den Respekt, den Erös als Arzt und Elitesoldat aus dem konservativen Lager genießt, nutzt er, um ebendort die ketzerische Botschaft hineinzutragen: Euer Militäreinsatz nützt nichts, er macht nur alles schlimmer. Euer vieles Geld geht an die Gangster, die es nach Dubai schaffen. Ihr habt Vertrauen verspielt, ihr habt die größte Volksgruppe gegen euch aufgebracht.
Und siehe da, das gleiche Rezept funktioniert auch in der anderen Richtung: Als Elitesoldat und Arzt, der in den 1980er-Jahren gegen den Willen der sowjetischen Besatzer operierte, oft heilte, manchmal aber auch nicht retten konnte, erwarb er sich Glaubwürdigkeit und Respekt auch bei den besonders Religiösen, bei Fanatikern, auch bei Hardcore-Taliban. Ihnen sagt er, wenn die ihre Waffen gerade einmal beiseitegelegt haben: Ihr müsst eure Kinder, auch die Mädchen, zur Schule gehen lassen. Sie brauchen eine Chance, das Land nach vorn zu bringen.
Erös hat, viele Jahre bevor ein deutscher Politiker erstmals verlangte, dass Verhandlungen mit Taliban möglich sein müssten, bereits verhandelt. Blut an den Händen ist nichts, was ihn schreckt. Mit der platten Rundmütze, dem farblosen Pakol, auf dem Kopf und dem inzwischen weißen Vollbart ist auf den Gruppenfotos nicht sofort zu erkennen, wer die Einheimischen sind und wer der deutsche Helfer - na ja, seine Leibesfülle verrät ihn. Afghanen sind dünn.
Selbstverständlich gehe es vielen Afghanen heute besser als in zehn Jahren Sowjet-Besetzung und in sechs Jahren Taliban-Regime. Aber ebenso selbstverständlich sei mit dem Nato-Einsatz von vornherein so viel falsch gemacht worden, wie falsch zu machen war.
Schulen, säkulare Schulen, immer mehr Schulen bauen für die 50 Prozent der afghanischen Bevölkerung unter 15 Jahren, damit sich die jungen Menschen dem Sog des radikalislamischen, dschihadistischen Wahns entziehen können: Das ist die einzige Antwort, die Erös einfällt, und weil er ein Aufschneider, ein Besessener, ein Nimmermüder, ein Chauvi, ein Politiker und ein – nun ja: ein Kämpfer eben ist, arbeitet er daran mit aller Kraft, mit allen seinen Mitteln.
Es ist seine höchstpersönliche Antwort, und er weiß, dass nicht jeder ihn nachahmen kann, erst recht nicht ein Staat, der ja notwendig bürokratisch ist. Aber was mit dem internationalen Militäreinsatz geschehen soll, ob er nötig ist - oder auch nicht? Kommt der nächste Bürgerkrieg, der nächste Taliban-Terror, wenn die Nato geht? Er weiß es nicht. "Die Karre ist im Dreck – und der Motor im Eimer. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie man sie da rauskriegt und ins Laufen bringt", sagt Erös.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern