Porträt: Der digitale Querdenker
Auf den Pressekonferenzen der deutschen Fußballnationalmannschaft sitzen in Frankreich meist Trainer und ausgewählte Spieler auf dem Podium. Kurz vor dem ersten Spiel der deutschen Mannschaft bei der Europameisterschaft gegen die Ukraine nahm dort aber ein Mann Platz, den viele Fans nicht kannten, der aber maßgeblichen Einfluss auf das Spiel hat. Christofer Clemens leitet die Abteilung Scouting und Spielanalyse des Deutschen Fußballbundes (DFB) und gehört zum dreiköpfigen Team, das dem Bundestrainer die theoretischen Grundlagen für seine Entscheidungen liefert.
Geboren ist der diplomierte Sportwissenschaftler in Bochum. Nach verschiedenen Stationen als Nachwuchsspieler landete er über ein Auslandssemester beim norwegischen Zweitligisten Valerenga Oslo. 1998 stieß er zum Stab der norwegischen Weltmeisterschaftsauswahl als Scout der Firma Mastercoach, die damals Vorreiter im Bereich der Spielanalyse und digitalen Aufbereitung von Daten war. Als sich das Unternehmen 2001 in Deutschland niederließ, wurde Clemens angestellt und belieferte Bundesliga-Klubs sowie die Schweizer Nationalmannschaft mit Analysen. 2005 holte ihn der vom damaligen Bundestrainer Jürgen Klinsmann engagierte Chefanalytiker Urs Siegenthaler in sein Team beim DFB.
Zwischen 2010 und 2013 machte er einen Abstecher zum HSV und leitete die 15-köpfige-Scouting-Abteilung. Seitdem wohnt er in Hamburg, an drei Tagen in der Woche arbeitet er in seinem Frankfurter DFB-Büro. Clemens ist ständig in den Arenen der Welt unterwegs, um die Trends aufzuspüren und kommt auf 150 Spielbeobachtungen pro Jahr. Er guckt sich nicht nur bei Spitzenklubs und Jugendcamps um, sondern auch in anderen Sportarten. Teams brauchen solche Querdenker, wenn sie nicht stagnieren sollen.
Einmal im Monat sitzen die Scouts der Nationalmannschaft einfach zusammen, trinken Kaffee und reden über die letzten Spiele. Für grundsätzliche Fragen bleibt während des EM-Turniers in Frankreich keine Zeit – hier ist seine wichtigste Aufgabe, Spielern und Trainern in Zusammenarbeit mit Softwarespezialisten bis kurz vor dem Spiel eine App zur Verfügung zu stellen, die sie optimal und in Echtzeit auf den Gegner vorbereitet. „Wir holen die Spieler da ab, wo sie sind“, sagt er und meint die digitale Welt.
Er kümmert sich auch um den Frauen- und Jugendbereich. „Wir hören genau zu und versuchen, die Entwicklung zu visualisieren, um zu sagen: Ah, da geht die Reise hin“, sagt er. Seine Prognose: „Der Fußball wird noch mehr individualisiert werden und die Trainerstäbe werden weiter professionalisiert.“ RLO
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen