Porträt: Erster Tag in einem neuen Leben
■ Özge D., 19 Jahre, über ihre Einschulung
Ich hatte Angst. Ich drückte die Hand meines Vaters immer fester, ich wollte, daß er mir hilft. Doch dann kam es so, wie ich es befürchtet hatte: Mein Vater bückte sich zu mir herunter und sagte, daß er jetzt gehen müsse, und daß ich mit dem Herrn dort mitgehen solle. Ich fing an zu weinen. Ich umklammerte die Beine meines Vaters. „Bleib hier“, flehte ich ihn an, „laß mich nicht allein.“ Er ging.
Der andere Mann redete auf mich ein, aber ich verstand kein Wort. Ich hörte auf zu weinen, besser gesagt, ich weinte keine Tränen mehr, innerlich weinte ich weiter. Meine Hoffnung, daß der Mann dann aufhören würde zu reden, erfüllte sich. Wir gingen und gingen, die Korridore kamen mir unendlich lang vor. Irgendwie wollte ich auch gar nicht ankommen, ich wollte solange es ging durch diese Korridore gehen. Vielleicht würde mein Papa zurückkommen und mich wieder mitnehmen.
Doch ich wußte, mein Vater würde nicht kommen, und ich wäre nur noch länger allein mit diesem Mann zusammen. Jetzt wünschte ich mir, endlich anzukommen. Ich wollte es hinter mich bringen. Wir blieben vor einer Tür stehen. Und ich glaube, als ich dort stand, stand auch mein Herz für Sekunden still.
Als ich durch die Tür ging, schloß ich die Augen. „Vielleicht ist es wirklich nur ein Traum“, dachte ich, „und wenn ich meine Augen öffne, ist alles vorbei, ist alles wie früher.“ Ich öffnete sie. 50 Augen starrten mich an. Es war kein Traum. Ich schaute mir das Zimmer an, es war so anders. Bunt und schön eigentlich, aber doch so fremd und kalt. Ich zitterte. Sie fingen an zu reden. Sie wurden immer lauter. Am liebsten hätte ich geschrien, daß sie aufhören sollten. Aber sie hätten mich sowieso nicht verstanden. Ich verstand sie ja auch nicht.Jetzt lachten einige. „Wieso lachen die“, dachte ich. „Lachen die mich aus? Ist irgendetwas mit mir? Es war schrecklich. Mir kamen die Tränen in die Augen. „Reiß dich zusammen“, sagte ich mir, „wenn du jetzt anfängst zu weinen, werden sie noch mehr über dich lachen.“
Der Mann schrieb meinen Namen an die Tafel: ÖZGE. „Ötzke, Ötzke“, lasen einige. Wie sollte ich denen erklären, daß ich Özge, nicht Ötzke ausgesprochen werde, sondern Öössge. Mit einem ssss, genauso wie es die Bienen machen. „Ötzke Demir“ wiederholten einige, denn der Mann hatte auch meinen Nachnamen an die Tafel geschrieben. Ich schüttelte den Kopf: „Ösge“, sagte ich, doch es half nichts, keiner konnte meinen Namen richtig aussprechen. „Öössge“, sagte ich noch ein paar Mal. Sie versuchten, es mir nachzusprechen, aber es gelang ihnen nicht. Ich sah ein, daß sich vieles für mich verändern würde, dazu gehörte auch die Aussprache meines Namens.
Es war nicht mein erster Schultag. Aber es war mein erster in Deutschland. An meinen ersten in der Türkei kann ich mich nicht erinnern, den in Deutschland werde ich nie vergessen. Es war nicht nur der erste Tag in einer neuen Schule, es war der erste Tag in einem neuen Leben...
Aus: „Wir leben hier“. Herausgegeben von Ulrike Holler und Anne Teuter. Alibaba-Verlag Frankfurt/Main.
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