Porträt des Autors Giwi Margwelaschwili: Zaubern für den "Wunschleser"
In Romanen von Margwelaschwili geht es um die Literatur und ihr Verhältnis zum Leser. Sein Leben kreuzte die Verwerfungen zwischen Deutschland und Georgien oft - nicht immer freiwillig.
Mehr noch als aus Fleisch und Blut besteht der Mensch aus Text. Davon ist Giwi Margwelaschwili überzeugt. Es sind die religiösen und weltanschaulichen Texte, die das Schicksal des Einzelnen bestimmen. "Ontotextuelle Verfassung des Bewusstseins" nennt er dies. "Der Mensch lebt immer in der büchernen Bestimmung." Dies gelte für totalitäre Gesellschaften ebenso wie für pluralistisch-säkulare. Aber der Mensch könne sich dessen bewusst werden und sich von schädlichen Bestimmungen befreien.
1927: als Kind georgischer Emigranten in Berlin geboren. Sein Vater Titus ist Professor an der Humboldt-Universität. Seine Mutter begeht 1931 Selbstmord.
1946: Zusammen mit seinem Vater, dem die Sowjets Kollaboration mit den Nazis vorwerfen, wird er vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet. Nach 18 Monaten Haft im sowjetischen Speziallager in Sachsenhausen kommt er nach Georgien.
1961: In Tiflis, wo er inzwischen als Lehrer arbeitet, beginnt er literarisch zu schreiben.
1990: Giwi Margwelaschwili beschließt, in Deutschland zu bleiben. Anfang der Neunzigerjahre erscheinen einiger seiner Schriften in deutschen Verlagen. 1992 soll er abgeschoben werden, was durch einen Gnadenerlass des Bundespräsidenten verhindert wird. 1994 erhält er die deutsche Staatsbürgerschaft.
Im Verbrecher Verlag sind folgende Bücher erhältlich:
"Officer Pembry" (2007), "Zuschauerräume" (2008). Für den Herbst angekündigt: "Vom Tod eines alten Lesers. Erzählungen"
In seiner Zweizimmerwohnung im Westberliner Arbeiterbezirk Wedding erzählt Margwelaschwili von seiner "büchernen Bestimmung", nämlich "Mein Kampf" und "Geschichte der KPdSU (B) - Kurzer Lehrgang", den Schriften Hitlers und Stalins. Sein Wohnzimmer ist ärmlich eingerichtet: Ein Schreibtisch mit einem Laptop, ein Flachbildfernseher, eine Schrankvitrine und ein Sofa voller Bücher, zwei abgenutzte Ledersessel, zwei Fotos, die mit Abklebeband an der Wand befestigt sind. Der Blick aus dem Fenster im vierten Stock des Sozialbaus geht auf eine Grünanlage, bei offenem Fenster rauscht die S-Bahn laut vorbei. Trotz des bescheidenen Interieurs wirkt Margwelaschwili aristokratisch; ein ansehnlicher Mann, der mit seiner höflichen, bald herzlichen und heiteren Art seine Gesprächspartner vereinnahmt. Und dem man an seinem leichten Berlinerisch anmerkt, dass dies seine Geburtsstadt ist.
Sein Vater Titus Margwelaschwili entstammt dem georgischen Landadel, ist Anhänger der menschewistischen Regierung und flieht nach der Besetzung Georgiens durch die Rote Armee 1921 nach Berlin. Die Familie richtet sich im gutbürgerlichen Wilmersdorf ein, wo Giwi 1927 geboren wird. Als er vier Jahre alt ist, begeht seine Mutter Selbstmord. Sein Vater leitet die Exilantenorganisation in Berlin, wird Professor für Philosophie und Orientalistik und bleibt dies auch nach 1933. Während des Krieges rekrutiert er Landsleute aus Kriegsgefangenenlagern für die "Georgische Legion" der Wehrmacht. Ein faschistischer Kollaborateur? Margwelaschwili weicht aus: "Damals haben viele Georgier kollaboriert, weil sie gehofft haben, Deutschland könne Georgien zur Freiheit verhelfen."
Giwi tritt der Hitler-Jugend bei. Aber sie gefällt ihm nicht. Dann hört er auf BBC Jazz: Glenn Miller, Louis Armstrong, Fats Waller. "Das war eine richtige Offenbarung", sagt er. "Das war ein ganz anderer Rhythmus, verstehen Sie, mein Herr? Befreiungsmusik." Er schließt sich der Swing-Jugend an. "Aber verfolgt wurde ich in Nazideutschland nicht", sagt er bestimmt. Weil er weiß, was Verfolgung bedeutet. Und weil er sich gerne an seine Jugend erinnert. Wie sein Altersgenosse Martin Walser, der darauf besteht, sich an seine glückliche Jugend zu erinnern, ohne sich mit dem Furor des NS-Regimes plagen zu müssen? "Ich glaube nicht, dass dieser Herr ein Liebhaber des Jazz ist", antwortet Margwelaschwili.
Nach dem Krieg werden Vater und Sohn vom sowjetischen Geheimdienst NKWD nach Ostberlin gelockt und verhaftet. Der Vater wird nach Tiflis gebracht und erschossen. Giwi kommt ins Speziallager in Sachsenhausen, wo er anderthalb Jahre inhaftiert bleibt. Dann wird er nach Georgien abgeschoben - in ein Land, das er nicht kennt und in dem er sich stets fremd fühlen wird. Aber er hat keine Wahl. Er lernt Georgisch und Russisch und studiert in Tiflis Germanistik. Die akademische Karriere bleibt ihm verwehrt. Immerhin kann er Deutsch und Englisch unterrichten. Wieder hört er in amerikanischen Sendern "ideologisch unzuverlässige Musik", Jazz und Rock n Roll. Aus Moskau besorgt er sich Literatur von DDR-Verlagen, allen voran von Thomas Mann. Und er entdeckt Martin Heidegger, an dem er sich bis heute abarbeitet.
"In Georgien haben mir viele misstraut. Ich spreche zwar Georgisch, aber mit Akzent und schlecht. Das ist für einen Georgier unannehmbar", erzählt er. Dass er Georgisch tatsächlich radebrecht, mag man ihm, der sich bei BBC und CNN informiert und auf dessen Sofa sich Jacques Derrida und Edgar Morin im französischen Original stapeln, nicht glauben. Unzweifelhaft aber ist seine "Sprachheimat" das Deutsche.
1961 beginnt er zu schreiben: Romane, Erzählungen, Stücke. Ohne die geringste Aussicht auf Veröffentlichung. "Ich musste mir selbst zeigen, dass all das, was ich erlebt habe, kein Traum war." So entsteht ein umfangreiches Werk, darunter ein sechsbändiger, autobiografisch gefärbter Romanzyklus, der "Kapitän Wakusch". Dessen erster Band heißt "In Deuxiland", der zweite "Sachsenhäuschen".
Stets geht es in seinen Romanen um die Literatur selbst. Und um ihr Verhältnis zum Leser. In "Officer Pembry" erhält der Titelheld einen Tipp von der "Prospektiven Kriminalpolizei" und muss sich davor retten, von Hannibal Lecter getötet zu werden, indem er einen hundert Jahre alten Roman - Thomas Harris "Das Schweigen der Lämmer" - gegen den Strich liest. In einem gerade fertig gestellten Roman, aus dem der Autor, die Zeilen mit zittrigem Finger auf dem Bildschirm verfolgend, vorliest, tauchen seine eigenen Figuren wieder auf. Wie andere Buchpersonen, die an Lesermangel leiden, treffen sie sich in der Kommandantur der "Lese-Lebenshilfe", wo ihnen kein Geringerer als Harry Potter einen "Wunschleser" herbeizaubert. Und "Wakusch junior", Margwelaschwilis literarisches Alter Ego, lässt seinen Schöpfer "Wakusch senior" herbeizitieren.
Ende der Sechzigerjahre bekommt Margwelaschwili in Tiflis Besuch von Heinrich Böll, der das Manuskript des "Wakusch" mitnehmen will. Margwelaschwili lehnt aus Angst ab - eine vertane Chance, um in der Bundesrepublik das zu werden, was Alexander Solschenizyn in Frankreich oder Boris Pasternak in Italien wurden, glaubt heute mancher in seinem Umfeld.
1969 darf er in die DDR reisen, wo er Wolf Biermann trifft und prompt ein Ausreiseverbot bekommt. Dennoch wird er an die Akademie der Wissenschaften berufen, zudem erscheinen einige seiner auf Russisch verfassten philosophischen Arbeiten. 1970 heiratet er die Germanistin und Übersetzerin Naira Gelaschwili, zu der er immer noch engen Kontakt hält. Doch die Ehe, aus der eine Tochter hervorgeht, wird nach zehn Jahren geschieden. Im Zuge der Perestroika darf Margwelaschwili wieder die DDR besuchen. 1990 beschließt er, in Deutschland zu bleiben. "Ich konnte meine Buchpersonen doch nicht in der Einsamkeit belassen" sagt er, "ich bin doch für sie verantwortlich."
Tatsächlich erscheinen nun einige seiner Bücher. Eine drohende Abschiebung können Freunde verhindern. Margwelaschwili erhält ein kleines Ehrenstipendium des Bundespräsidenten, dann die deutsche Staatsbürgerschaft, schließlich die Goethe-Medaille und andere Ehrungen. Aber verlegen will ihn bald niemand mehr. Jetzt sind es nicht mehr die Sprache und die Zensur, die seine Bücher verbannen, sondern der Markt. Fühlt er sich in seiner "Sprachheimat" heimisch? "Ich fühle mich einsam", antwortet er - um gleich, als wolle er sich jedes Mitleid verbitten, anzufügen: "Ich muss ja viel arbeiten."
Seit vergangenem Jahr tut er dies wieder für ein Publikum. Der Berliner Verbrecher Verlag hat sich seiner angenommen und will das Gesamtwerk verlegen. "Warum bloß ist Giwi Margwelaschwili kein berühmter Schriftsteller?", hat vor einiger Zeit Jörg Magenau im Tagesspiegel gefragt. "Im Zeitalter von Migrationshintergründen und Parallelwelten wäre er doch der ideale Autor." Der weiß eine einfache Antwort: "Hier interessiert sich niemand für Georgien." Plötzlich ändert sich sein Tonfall: "Wenn man den Russen diesen Kolonialismus durchgehen lässt, werden sie auch in der Ukraine oder im Baltikum einfallen", sagt er. Oder: "Abchasien und das, was sie Südossetien nennen, ist georgisches Territorium, das die Russen besetzt halten - genauso wie die Türken georgisches Gebiet annektiert haben. Sehen Sie dieses Kirchenportal?" Er zeigt auf eines der Fotos an der Wand. "Das steht heute in der Türkei."
Mal auf international anerkannte Grenzen verweisen, mal diese selbst infrage stellen - so reden sonst nur beinharte Revanchisten und bornierte Nationalisten. Ob Giwi Margwelaschwili so einer ist? Dass Präsident Michail Saakaschwili mit der Offensive in Südossetien unüberlegt gehandelt habe oder dass unter seinem Regime Oppositionelle verfolgt würden, lässt sich Margwelaschwili nur mühsam entlocken. Viel lieber tritt der Schriftsteller als Botschafter Georgiens auf: "Ich hätte mir gewünscht, dass auch die Europäer so deutliche Worte gefunden hätten wie die Amerikaner."
Margwelaschwilis letzte Veröffentlichung, das Drama "Zuschauerräume", ist ein surrealistisches Stück und handelt vom Versuch eines Königs, die "Zuschauerräume" und damit die Geschichte abzuschaffen: "Es geht hier darum, eine Geschichte zu beenden, in der wir alle uns nur zum Zeitvertreib fremdweltlicher Zuschauer umherbewegen, in der wir alle möglichst interessant sein müssen, möglichst gefährlich, möglichst tödlich füreinander und auch immer möglichst unterschiedlich." Bedeutet das Insistieren auf die Gebietsansprüche Georgiens nicht die Fortsetzung der tödlichen Geschichte? "Leider", flüstert er. "Aber solange die Weltgeschichte verlangt, dass Blut fließt, muss man das in Kauf nehmen."
Es ist tragisch, wenn ein Schriftsteller - zumindest in einer politischen Ausnahmesituation - weniger klug erscheint als seine literarische Figur. Doch Margwelaschwili dürfte dies kaum schrecken. Auch er entkommt der "ontotextuellen Verfassung" nicht. Vielleicht lässt er einmal den Margwelaschwili, der in der Zeitung steht, auf eine seiner literarisch-fiktiven Figur treffen. Und zwar in einer klugen, mehrschichtigen und vergnüglichen Erzählung.
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