■ Populistische Kräfte gefährden Polens Demokratie: Die Lektion Walesa
Revolutionen haben ihren Ort und ihre Etappen. Hierin bilden die Revolutionen, die 1989 in Osteuropa einsetzten, keine Ausnahme. Wie in allen Revolutionen ging es in einer ersten Etappe um den Kampf für die Freiheit, und in einer zweiten Etappe geht es heute nun um den Kampf um die Macht. Die Revolutionen, ob blutig oder friedlich, kommen, wie man sieht, um diese zweite, widerliche Etappe nicht herum, die sich von der ersten Etappe, der erhabenen, romantischen und idealistischen, so sehr unterscheidet. In Polen, wo der Kampf zwischen vielen Helden der Solidarność-Revolution, der ersten, die in Osteuropa eine kommunistische Herrschaft zum Einsturz brachte, artet diese zweite Etappe in eine scheußliche Schlammschlacht aus.
Lech Walesa, Gründer und Führer von Solidarność, Friedensnobelpreisgewinner von 1983 und Präsident Polens, ist heute bevorzugte Zielscheibe all jener, die eine Neuaufteilung der Macht fordern. Er ist der Mythos, der an etwas stirbt, was die Welt faszinierte. Doch ist Walesa selbst – wie einst die Jakobiner in der Französischen Revolution oder viele kommunistische Führer in der bolschewistischen russischen Revolution – einer der Hauptschuldigen am erbarmungslosen Kampf, der heute den friedlichen Aufbau einer neuen sozialen und wirtschaftlichen Ordnung gefährdet.
Walesa selbst hat sich ja 1990 an die Spitze jener gestellt, die unzufrieden waren, weil der Zusammenbruch des Kommunismus nicht automatisch das Paradies hervorgebracht hatte, weil sie nicht mit Ministerposten belohnt worden waren oder weil das neue Regime, das in Polen entstand, nicht katholisch und nationalistisch war, wie sie sich erhofft hatten. Unterstützt von diesen enttäuschten Kreisen, erklärte Walesa Premierminister Tadeusz Mazowiecki den Krieg und begrub die Idee, daß alle politischen Kräfte – diejenigen der Vergangenheit wie diejenigen, die gerade erst auf der politischen Bühne aufgetaucht waren – gemeinsam für das Wohl des Landes arbeiten müßten. Walesa führte jene seltsame Koalition an, weil er mehr als alle anderen selbst enttäuscht war. Er mußte mitansehen, wie Mazowiecki, den er für seinen einfachen Berater hielt, sich in eine weltweit hochgeschätzte Persönlichkeit verwandelte.
Walesa gewann die Unterstützung der Enttäuschten, weil er in unverantwortlicher Art und Weise ihre Illusionen nährte und ihnen die schnelle Schaffung des Paradieses versprach: 100 Millionen Zlotys (umgerechnet ca. 15.000 DM) für jeden Bürger, um Aktien der privatisierten Staatsunternehmen zu kaufen, die Bestrafung der Kommunisten und den Aufbau eines Polen „nur für Polen“.
Mit diesen und weiteren Versprechen, die ebenso unerfüllbar waren, weil sie den Interessen des Landes widersprachen, gewann Walesa die Präsidentschaftswahlen. Aber er setzte damit gleichzeitig seine Zukunft aufs Spiel, indem er seinen unerbittlichsten Feinden von heute die stärksten Argumente lieferte. Wenn ein erbarmungsloser Kampf um die Macht ausbricht, können nur wenige darauf verzichten, ihren Gegner mit Dreck zu bewerfen. Die heutigen Gegner Walesas, angeführt von Jaroslaw Kaczynski (Vorsitzender der oppositionellen „Zentrumsallianz“, A.d.R.), dem Mann, der bei den Präsidentschaftswahlen von 1990 dem Solidarność-Führer zum Triumph verhalf, können und wollen auf eine Schlammschlacht nicht verzichten. Kaczynski bezichtigt Walesa, ein Spitzel der kommunistischen Polizei gewesen zu sein. Dieselbe Beschuldigung erhebt er gegen viele der engsten Mitarbeiter des Präsidenten, dessen Beichtvater, den Priester Cybula, eingeschlossen. Und auf Straßendemonstrationen fordert er die Absetzung des Präsidenten. Er hat Grund hierfür, schließlich hat Walesa nicht eines seiner Wahlversprechen eingelöst. Kaczynski weiß auch, daß er den Präsidenten ungestraft beschuldigen kann, weil Walesa, der einst den Konsens und die Unterstützung eines großen Teils des Volkes genoß, sich heute auf niemandem mehr abstützen kann. Er kann von der Intelligenzija keine Hilfe erwarten, weil er mit ihr gebrochen hat. Als Machtpolitiker flößt er kein Vertrauen ein. Und die katholische Kirche, die wegen ihrer Versuche, auf die Politik des Landes Einfluß zu nehmen, sehr geschwächt ist, kann auch nicht mehr glaubwürdig für ihn bürgen.
Aber Walesa beschuldigt seine Gegner zu Recht, das Land destabilisieren zu wollen, und auch wenn er nicht der Präsident ist, den das Land braucht, verdient er als Politiker, der über den Willen des Volkes zu seinem Amt kam, die Unterstützung aller, die die demokratischen Institutionen und Mechanismen verteidigen – und dies um so mehr zu einem Zeitpunkt, in dem Polen in Formen autoritärer Machtausübung abzugleiten droht, wie sie von populistischen Strömungen gefordert werden.
Polen mit seinen 40 Millionen Einwohnern ist aufgrund seiner geographischen Lage zwischen zwei großen Gemeinschaften, der EG und der GUS, und aufgrund seines wirtschaftlichen Potentials ein bedeutendes Land. Heute steht es vor der Alternative, einen Kompromiß zu finden oder die Zerstörung der Demokratie in Kauf zu nehmen. Die Tatsache, daß ein äußerst rabiater Populismus wieder sein Haupt erhebt und immer hartnäckiger an die Xenophobie und den Antisemitismus appelliert, stimmt nicht gerade optimistisch.
Ich habe mich der Kommunistenhatz und dem eingefleischten Antikommunismus immer widersetzt. Doch heute sehe ich die Gefahr, daß in Polen eine Form des alten Regimes wieder aufersteht, weil angesichts der Offensive ultrarechter und unverantwortlicher Kräfte ein großer Teil des Wahlvolkes für das kleinere Übel, die Ex-Kommunisten, optieren könnte. Obwohl nicht ich, sondern Kaczynski den Polen versprochen hat, Walesa werde Wunder vollbringen, bin ich deshalb dagegen, daß er von jenen gestürzt wird, die eine Lösung über die Macht der Straße anstreben. Wenn Walesa sein Amt bis zum Ende seines Mandats ausüben würde, wäre dies eine gute Lektion für jene, die ihn gewählt haben. Sie würden dann auch lernen, daß die demokratische Wahl kein Spiel ist, sondern ein Akt, der überlegt sein will und nicht Ausdruck purer Emotion sein darf.
Ich bin ein unverbesserlicher Optimist und vertraue immer auf den gesunden Menschenverstand der Leute, auch wenn mich die Realität jeden Tag eines Besseren belehrt. Deshalb hoffe ich, daß eine neues politisches Zentrum entsteht, das sich der drohenden Gefahr bewußt ist und auch der großen Chancen, die sich für Polen auftun, wenn es die Demokratie aufrechtzuerhalten weiß. Wir alle, von Präsident Walesa, dem Primas der katholischen Kirche, Glemp, bis zur Premierministerin Suchocka, müssen den Beweis dafür antreten, daß wird den Kompromiß dem Krieg vorziehen. Wir müssen wählen zwischen der Hoffnung und der Katastrophe. Adam Michnik
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