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Polnisches WahldesasterGegen den Geist der Verfassung

Polen organisiert am Sonntag eine ungültige Präsidentenwahl. Das verrät einiges über den Zustand des politischen Systems.

Mit Maske unmaskiert: PiS-Chef Jarosław Kaczyński im polnischen Parlament Foto: Czarek Sokolowski

Warschau taz | Wahlen sind in Polen noch immer etwas ganz Besonderes, ein „Fest der Demokratie“. Zum Ritual der sogenannten Wahlkampfstille gehört es, an die Zeit der kommunistischen Volksrepublik zu erinnern, als die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei alle vier Jahre Pseudowahlen mit schon vorher bekanntem Wahlergebnis veranstaltete. Im Büro der unabhängigen Wahlkommission in Polens Hauptstadt Warschau tickt eine Uhr und zählt die Tage, Stunden und Sekunden bis zur Öffnung der Wahllokale am Sonntag um 7 Uhr runter.

So ist es auch in diesem Jahr: Am nächsten Sonntag findet in Polen die Präsidentschaftswahl statt. Wie immer seit rund 30 Jahren wurde die Wahlkampfstille ausgerufen, in der Polens Wähler und Wählerinnen Zeit und Muße haben, ihre bevorstehende Wahl noch einmal zu durchdenken.

Doch dieses Mal ist alles anders. Polens demokratische Wahlen, seit fast drei Jahrzehnten frei, gleich und geheim, sind nur mehr eine Farce. Sie sind Pseudowahlen. Denn das Ergebnis steht schon heute fest: Polens Präsidentschaftswahl vom Sonntag wird ungültig sein.

Beschlossen haben dies zwei Männer in den Hinterzimmern der Macht: Jarosław Kaczyński, 70, der Vorsitzende der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), und Jarosław Gowin, 58, der Vorsitzende der konservativen Porozumienie (Verständigung). Dessen Partei ist Mitglied der PiS-Fraktion im polnischen Abgeordnetenhaus, ihre Mitglieder bekleiden einige Ministerposten in der PiS-Regierung.

Die jarosławische Wahl-Nichtwahl

Drei Tage vor der Präsidentschaftswahl am Sonntag veröffentlichten die beiden ein lakonisches Vier-Sätze-Papier, in dem sie die Wahlen mal eben so verschoben.

Das Oberste Gericht werde „nach Ablauf des Termins am 10. Mai die nicht stattgefundenen Wahlen voraussichtlich zu ungültigen erklären“ heißt es da. Mit anderen Worten: In Polen werden nach dem Willen der beiden Jarosławs Wahlen ohne Wahlvolk stattfinden.

taz am wochenende

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Keiner der rund 30 Millionen Wahlberechtigten erhält in letzter Sekunde die Briefwahlunterlagen, keiner wird seinen Wunschpräsidenten unter den zehn Kandidaten ankreuzen und keiner wird sein Wahlpaket mit den zwei Umschlägen in Briefkästen-Wahlurnen werfen, die eigens für die Briefwahl auf Polens Straßen aufgestellt werden sollten. Und diese jarosławische Wahl-Nichtwahl soll dann das Oberste Gericht Polens für „ungültig“ erklären.

Dass es sich hier um ein politisch bestelltes Urteil handelt, ist für jeden ersichtlich und spiegelt den völligen Verfall der polnischen Gerichtsbarkeit unter der PiS-Regierung seit 2015 wider.

Für politisch nicht genehme Urteile droht Richtern Disziplinarstrafe

2018 hatten Polens Nationalpopulisten am Obersten Gericht eine neue Kammer mit dem seltsamen Titel „Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten“ geschaffen und sie durch den ebenfalls neu geschaffenen und hochumstrittenen Landesjustizrat mit Richtern besetzen lassen, die als PiS-loyal gelten. In einem nächsten Schritt erhielt die Kammer 2019 dann die Aufgabe, über die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Wahlen zu urteilen.

Theoretisch könnte das Gericht zwar das politisch bestellte Urteil verweigern und die Präsidentschaftswahl als „nicht stattgefunden“ klassifizieren, doch den Richtern drohen für politisch nicht genehme Urteile Disziplinarstrafen bis zur Amtsenthebung. Aber angenommen, dass die Obersten Richter das ehrabschneidende Urteil doch nicht fällen wollen, könnte das bereits vollständig auf Linie gebrachte Verfassungsgericht einspringen und das „richtige Urteil“ fällen.

Und dann könnte – wie von den beiden Jarosławs geplant – die Parlamentsvorsitzende Elżbieta Witek von der PiS ein neues Datum für die Präsidentschaftswahl festlegen, das den Machterhalt der PiS sichern könnte. Frühestmöglicher Termin wäre Samstag, 23. Mai, aber auch alle Sonntage im Juni und Anfang Juli kämen in Frage.

Schuld am Wahlvorbereitungsdesaster sind wie immer bei der PiS natürlich die anderen, dieses Mal die Oppositionsparteien und die zweite Kammer des Parlaments, der Senat. Anders als im Sejm, in dem die PiS die absolute Stimmenmehrheit hat und jedes gewünschte Gesetz im Turbotempo durchpeitschen kann, hat die Opposition im Senat eine hauchdünne Mehrheit von zwei Stimmen und stellt auch den Senatsvorsitzenden.

Ein „hartes Gespräch unter Männern“

Tatsächlich nahmen sich die Senatoren für die Beratung des Briefwahlgesetzes der PiS die ihnen gesetzlich zustehende Zeit von fast einem Monat. Dann verwarfen sie es am Dienstag vor der Wahl in Gänze. Normalerweise hätte der von der PiS kontrollierte Sejm den Senatsbeschluss sofort überstimmt, doch dieses Mal scherte der Juniorpartner in der PiS-Fraktion aus und beharrte auf eine Verschiebung der Wahl um bis zu zwei Jahre, was Gesundheit und Leben der WählerInnen in Coronazeiten schützen helfen sollte.

Nach einem „harten Gespräch unter Männern“ verkündeten Kaczyński und Gowin dann, dass sie eine Lösung für diese angeblich von der Opposition verschuldete Krise gefunden hätten, die „den Polen die Teilnahme an demokratischen Wahlen“ ermöglichen werde. Zugleich verpflichtete sich Gowin in der gemeinsamen Erklärung, seine Bedenken wegen der Coronapandemie fallen zu lassen und nun doch Wahlen zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterstützen.

Kein Wort darüber, dass das PiS-Briefwahlgesetz als Ganzes verfassungswidrig ist, da es nicht sechs Monate vor der nächsten Wahl verabschiedet wurde. Kein Wort auch darüber, dass die Wahl völlig legal verschoben werden könnte, wenn die Regierung den für solche Fälle in der Verfassung vorgesehenen Naturkatastrophenzustand ausrufen würde.

Es geht den Parteifunktionären Jarosław Kaczyński und Jarosław Gowin allein um den Machterhalt. Ein Garant für weitere vier Jahre Durchregieren wäre eine zweite Amtszeit von Andrzej Duda. Beim PiS-Verbot der Versammlungsfreiheit aufgrund der Coronakrise hatten die anderen Kandidaten keine Chance auf einen fairen Wahlkampf.

Duda, der Favorit

Duda war absoluter Favorit. Nach der PiS-Logik soll das möglichst so bleiben. Aus diesem Grund wird die PiS die Wahl nicht verfassungskonform um bis zu sechs Monate verschieben, da mit jedem Monat das Risiko steigt, dass ein anderer als Duda neuer Präsident Polens wird.

Polens Oppositionsparteien freuten sich über die Verschiebung der Wahl um wenige Wochen, statt sofort den Rücktritt dieser ständig das Recht brechenden Regierung zu fordern. Auch fast alle Medien in Polen verkündeten den erneuten Bruch aller Regeln des demokratischen Rechtsstaats als „gute Lösung“ oder auch als eine „Lösung, mit der alle gut leben können“. Das zeigt nur, wie sehr sich selbst Menschen, die sich für gute DemokratInnen halten, bereits an Rechtsbruch und Rechtschaos im PiS-Staat gewöhnt haben.

Aus der EU war in Polen nur ein verhaltenes „Wir sind weiterhin besorgt“ zu hören, allerdings mit dem seltsamen Hinweis auf die Post, die als Staatsunternehmen – entgegen Verfassung und Wahlgesetzbuch – die Wahlen durchführen sollte und zu diesem Zweck bei den Einwohnermeldeämtern Datensätze aus den Melderegistern anforderte.

Sicher ist das alles illegal, doch angesichts des Demokratieabbaus mit nun ersten Geisterwahlen und schon bekanntem Wahlausgang ist der von etlichen Oberbürgermeistern bereits angezeigte „Datenklau durch die Polnische Post“ wirklich nur noch ein Detail.

Die Uhr der Wahlkommission tickt

Nur Donald Tusk, Polens ehemaliger Premier, Ratsvorsitzender der EU und heute Chef der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament, forderte seine Landsleute zum Boykott der Präsidentschaftswahl auf. Dem schlossen sich fast alle Ex-Präsidenten und viele Ex-Premiers Polens an, doch aus der EU blieb sie die einzige laut vernehmbare Stimme.

Mit der Geisterwahl am Sonntag zeigt die PiS zum ersten Mal ohne Maske, dass nicht nur diese Wahl ganz ohne demokratische Standards, ja sogar ohne das Wahlvolk auskommen kann, sondern auch die kommenden Parlamentswahlen im Jahr 2023. Denn was einmal durchgeht, wird auch bei zweiten Mal geschluckt. Die PiS muss die autokratische Kröte nur geschickt genug verpacken.

In Polens unabhängiger Wahlkommission tickt noch immer die Uhr und zählt die Tage, Stunden und Sekunden bis zum Wahlbeginn am Sonntag um 7 Uhr morgens runter. Doch am Ende des Countdowns steht nicht mehr das „Fest der Demokratie“, sondern die größte Wahlpleite, die Polens junge Demokratie je erlebt hat.

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4 Kommentare

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  • Selten finden sich so viele Unstimmigkeiten in einem einzigen Absatz:

    "Kein Wort darüber, dass das PiS-Briefwahlgesetz als Ganzes verfassungswidrig ist, da es nicht sechs Monate vor der nächsten Wahl verabschiedet wurde."

    Das Gesetz ist nicht verfassungswidrig. Nach einem Urteil des Verfassungsgerichts vom 05.11.2006 darf zwar eine Novellierung des Wahlrechts nicht später als sechs Monate vor der kommenden Wahl verabschiedet werden. Dies gilt jedoch nicht, so ein damaliges Mitglied des Richterkollegiums Prof. Marek Safjan, wenn landesweit besondere Umstände eintreten. Zu diesen gehört eindeutig der seit dem 20. März herrschende Epidemie-Zustand. Der Epidemie-Zustand (2008 unter PO-PSL-Mehrheit ins Rechtsystem eingeführt) ermöglicht rechtskonforme Wahlrechtsänderung (in diesem Fall: allgemeine Briefwahl) jedoch keine Wahlverschiebung.

    "Kein Wort auch darüber, dass die Wahl völlig legal verschoben werden könnte, wenn die Regierung den für solche Fälle in der Verfassung vorgesehenen Naturkatastrophenzustand ausrufen würde."

    Die Ausrufung des Naturkatastrophenzustands wäre für eine verfassungskonforme Verschiebung der Präsidentenwahl sicherlich förderlich. Juristen weisen jedoch darauf hin, dass ein solcher Rechtsvorgang den in Polen ansässigen Konzernen einen Weg für Entschädigungsklagen in Milliardenhöhe ebnen würde. Genau aus diesem Grund hat Jarosław Gowin eine Lösung der Wahlkrise gefordert, die zugleich Wahldurchführung im Mai verhindert und die Verhängung des Naturkatastrophenzustands durch das Parlament meidet. Laut Gowin sei der polnische Haushalt nach maximal 3 Monaten Naturkatastrophenzustand nicht mehr tragbar, zumal eine globale Rezession sich anbahne.

  • Wurde 1989 in Polen ein schwerer Fehler begangen?



    Unter Jaruzelski gab es relativ stabile Verhältnisse und ein liberales Abtreibungsrecht. Mit der sogenannten Demokratisierung ging es nicht nur den Frauenrechten an den Kragen...

    • @Linksman:

      Was Sie da von sich geben ist nichts anderes als Verhöhnung der Opfer (Todesopfer wie auch Opfer erzwungener Auswanderung) des im Dezember 1981 verhängten Kriegsrechts. Das Vorgehen der Jaruzelski-Miltärjunta war nicht mal mit der "Rechtsordnung" der Volksrepublik Polen vereinbar. Wenn Sie Ihr Wissen nicht aus dem Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B) und ähnlichen Quellen bezogen hätten, wären Sie nicht auf dieses schmale Brett geraten, auf welchem Sie nunmehr auch noch ausgerutscht sind.

  • Frau Lesser, wieso bezeichnen Sie die damalige Volksrepublik Polen als "kommunistisch" ? Es hat nie einen kommunistischen Staat gegeben. Auch wenn Parteien sich "kommunistisch" nannten, waren sie das ja nicht. Selbst die Sowjetunion nannte sich nicht so, sondern hieß ganz offiziell "Union der sozialistischen Sowjetrepubliken".



    Ich denke, dass man gerne bei dem Begriff "kommunistisch" bleibt, weil der über



    Jahrzehnte schön negativ etabliert wurde und heute jeder Uninformierte sofort weiß, dass der Begriff für etwas Schlechtes, für ein schlimmes Konstrukt steht. Dabei haben sich die wenigsten Leute mal die Mühe gemacht diesen Begriff zu verstehen.



    Ja, und da seit drei Jahrzehnten in Polen die Demokratie eingkehrt ist, kann man dort natürlich erkennen, dass es mit der Bedeutung dieses Begriffs auch nicht weit her ist.



    Mit der Bezeichnung "Demokratie" kann man genauso Missstände kaschieren, wie mit den Begriffen "Sozialismus" und "Kommunismus".