Polizeigesetze auf dem Prüfstand: Immer diese Fußballfans
Das Public Viewing bei der Fußball-WM sorgte für mehr Platzverweise als die Maikrawalle im Schanzenviertel. Linksfraktion fordert liberaleres Polizeigesetz.
![](https://taz.de/picture/249450/14/cyber_N4_publicviewing_4sp_sw.jpeg)
Der WM-Sommer 2006 war kein "Sommer unter Freunden", es war der Sommer der Gewalt. Zumindest auf dem Heiligengeistfeld: Allein beim Public Viewing wurden dort von der Polizei 727 Aufenthaltsverbote ausgesprochen.
Das ist fast ein Viertel aller Platzverweise, die von Mitte 2005 bis zum 2. Mai 2011 in sogenannten "Gefahrengebieten" in der Hansestadt ausgesprochen wurden - und sogar mehr als bei den Maikrawallen vor der Roten Flora im Schanzenviertel (siehe Kasten).
Das geht aus der Antwort des Senats auf eine Große Anfrage der Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft hervor. Die Polizei würde "weit im Vorfeld einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung Eingriffe in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger durchführen", kritisiert die innenpolitische Sprecherin der Linken, Christiane Schneider. Bei einer Novellierung der Polizeigesetze müsse dies "dringend geändert werden".
Für die Verhängung eines Aufenthaltsverbots reicht selbst nach Polizeieinschätzung "die Verhütung von Ordnungswidrigkeiten oder die Abwehr einer sonstigen Gefahr für die öffentliche Sicherheit nicht aus". Voraussetzung sei vielmehr "eine begründbare Erwartung, dass eine Straftat begangen werden soll", heißt es in der Senatsantwort. Zudem müssten "Erkenntnisse" vorliegen, "dass die betroffene Person eine Straftat an einem bestimmten Ort begehen wird".
Wie die Polizei solche Erkenntnisse gewinnen konnte, bleibt offen. Schneider spricht deshalb von Verschleierung mittels "kaskadenförmiger Verweisungsketten", die eine nachträgliche Aufklärung nahezu unmöglich machten.
Von 2005 bis 2011 hat die Polizei nach Angaben des Senats in "allgemeinen Gefahrengebieten" 2.832 Platzverweise und Aufenthaltsverbote ausgesprochen. Davon entfielen auf:
Wasserturm Schanzenpark: 4
G8-Gipfel 2007: 110
Schanzenfest 2010: 21
Maikrawalle Schanzenviertel 2011: 568
Public Viewing Fußball-WM 2006 Heiligengeistfeld: 727
Public Viewing Fußball-WM 2006 andere Orte: 72
Amüsierviertel Reeperbahn/
St. Pauli: 1.212
Sonstiges: 118
Im Jahr 2005 hatte die CDU-Alleinregierung unter Federführung von Justizsenator Roger Kusch das nach eigener Einschätzung "schärfste Polizeigesetz Deutschlands" durchgesetzt.
Inzwischen haben mehrere Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts deutlich gemacht, dass eine Reihe von Normen des "Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung" (SOG) wie auch des "Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei" (PolDVG) in Teilen verfassungswidrig sind. Deshalb steht nach Ansicht aller Fraktionen in der Bürgerschaft eine Liberalisierung dieser Gesetze an. Der SPD-Senat wurde aufgefordert, bis Ende Oktober einen neuen Gesetzesvorschlag vorzulegen.
Nach Auffassung der Rechtsanwältin Ulrike Donat in einem Gutachten für die Linke müsse ein neues Polizeigesetz für "Normenklarheit" sorgen, um den Grundrechtsschutz der Betroffenen zu wahren. Auch sollten Aufenthaltsverbote einen "konkreten Gefahrenverdacht" voraussetzen.
Zudem müssten richterliche Erlaubnisse eingeholt und die Aufsichtsrechte des Parlaments gestärkt werden, fordert Schneider. Anders als in Bremen unterliegt dieses polizeiliche Vorgehen in Hamburg keiner Kontrolle durch einen Ausschuss der Bürgerschaft.
Auch die Begründungen für die Platzverweise beim Public Viewing auf dem Heiligengeistfeld 2006 bleiben im Unklaren. Was auch immer befürchtet worden sein mag - eine Auswertung der Vorgänge, antwortet der Senat, sei "nicht zu leisten".
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