Politologe über kleine Parteien: „Ein treibender Motor“
Stimmen für Kleinstparteien sind nicht unbedingt „verschenkt“, sagt Benjamin Höhne. Auch ohne Mandat können sie die Etablierten unter Druck setzen.
taz: Herr Höhne, wenn man nach den Wahlplakaten in Berlin geht, scheint es für die Abgeordnetenhauswahl dieses Mal besonders viele Kleinparteien zu geben. Ist die Unzufriedenheit mit den Etablierten nochmal gestiegen seit den vergangenen Wahlen?
Benjamin Höhne: In der Tat nimmt die Zahl der Parteien seit Jahren zu. Aber ich würde nicht von vornherein sagen, dass das etwas mit Unzufriedenheit mit den Etablierten zu tun hat.
Sondern?
Ich würde es neutraler formulieren: Wir beobachten eine Ausdifferenzierung der Angebotsseite. Es gibt mehr parteipolitische Angebote als noch vor 30 Jahren; damit halten die Parteien ein Stück weit Schritt mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Die ist ja viel heterogener als früher. Und wir sehen auch, dass es den einstigen Volksparteien CDU/CSU und SPD immer schwerer fällt, Integrationskraft zu entfalten. Dagegen haben es die kleinen Mitbewerber leichter mit ihren zielgerichteten Angeboten – teils monothematisch, manche aber auch mit zwei, drei Themenfeldern.
Weil die Gesellschaft sich immer mehr ausdifferenziert in gesellschaftliche Gruppen, müssen die Parteien das mitmachen?
Nicht zwangsläufig. Aber sicherlich reagieren Parteien auf gesellschaftlichen Wandel. Das faktische Verhältniswahlsystem in Deutschland fördert dies stärker als andere politische Systeme. In Großbritannien, den USA oder auch Frankreich, wo es ein Mehrheitswahlsystem gibt, ist es schwieriger für neue BewerberInnen aus nicht etablierten Parteien, Mandate zu gewinnen.
Benjamin Höhne
geboren 1978, ist Politikwissenschaftler und stellvertretender Leiter des Instituts für Parlamentarismusforschung in Berlin.
Dafür haben wir die Fünfprozenthürde. Wer eine Kleinpartei wählt, weiß oft vorher, dass die Stimme verschenkt ist, oder?
Jein. Es stimmt zwar: Die Fünfprozent-Sperrklausel ist eine hohe Hürde. Andererseits ist eine wichtige Schwelle für die Kleinstparteien die Parteienfinanzierungsschwelle – und die liegt bei 0,5 Prozent der gültigen Zweitstimmen bei Bundestags- und Europawahlen, und bei 1 Prozent für Landtagswahlen wie der Abgeordnetenhauswahl in Berlin. Das heißt, es kann durchaus rational sein, einer kleinen Partei die Stimme zu geben, damit sie diese Hürde nimmt. Dann kommt sie in den Genuss der staatlichen Parteienteilfinanzierung und kann den Wahlkampf finanzieren, der tendenziell kapitalintensiver wird.
Strategisch gerate ich als Wählerin aber in die Bredouille: Wenn mir etwa das Klimathema sehr am Herzen liegt und ich denke, dass die Etablierten nicht genug tun, könnte ich dieses Mal die Klimaliste wählen. Aber schade ich damit nicht meinem Anliegen, weil dann den Grünen meine Stimme fehlt?
Ja, das ist eine Rechnung, die aufgemacht werden sollte. Wenn Sie sich eine radikalere Klimapolitik wünschen, werden Sie vermutlich unzufrieden sein mit einem eher moderaten Kurs, den die grüne Partei in der Bundesregierung oder im Berliner Senat wahrscheinlich verfolgen würde, schließlich muss sie in einer Koalition Kompromisse eingehen. Aber zurück zu Ihrer Frage: Macht es Sinn, zum Beispiel als Klimaaktivistin die Klimaliste zu wählen?
Und was sagen Sie?
Erst mal „verschenkt“ man eine Stimme im Sinne parlamentarischer Wirksamkeit, wenn man eine Partei wählt, die nicht ins Parlament kommt. Andererseits: Je größer der Anteil für radikalere Umweltparteien links der Grünen wird, desto stärker ist die Signalwirkung für die Bündnisgrünen, noch mehr zu tun und dieses Klientel im Blick zu behalten.
Eine Kleinpartei ist also Antreiberin, indem sie Druck macht, dass die Etablierten radikaler oder mutiger werden oder zu ihren Ursprüngen zurückkehren?
Absolut. Das ist ja auch die entscheidende Funktion von sozialen Bewegungen für das Parteiensystem. Das wissen die Grünen, die als Antiparteienpartei beziehungsweise als Bewegungspartei gestartet sind, sehr genau. Gerade ihnen ist der Druck von der Straße ein Lebenselexier, ein treibender Motor, der Dynamik für den Wandel in zu Starre neigenden Organisationen schafft.
Immer mehr 34 Parteien hat der Landeswahlausschuss im Juli zur Abgeordnetenhauswahl am 26. September zugelassen. Davon treten 27 mit Landeslisten und 7 mit Bezirkslisten an und werben um die Gunst der Zweitstimmen der WählerInnen. Bei der Berlin-Wahl 2016 kandidierten lediglich 21 Parteien.
Neu im Angebot Erstmals dabei sind in diesem Jahren unter anderem: Klimaliste Berlin, Volt, Team Todenhöfer, Die Basis.
Fünfprozenthürde Bei der Wahl 2016 kam keine der so genannten Kleinparteien über die Fünfprozenthürde. Stärkste der Kleinen war Die Partei mit 1,95 Prozent der Zweitstimmen, das entsprach knapp 32.000 Stimmen.
Finanzierung Ab 1 Prozent der bei einer Landtagswahl abgegebenen gültigen Zweistimmen bekommt eine Partei Geld aus der staatlichen Parteienfinanzierung. Pro Stimme gibt es dann rund 1 Euro. (sum)
Was bedeutet es, wenn laut Umfragen rund zehn Prozent der WählerInnen Parteien wählen wollen, die nicht im Parlament vertreten sind: Ist das schlecht für die Demokratie?
Es gibt keine genaue Zahl, ab der man sagen kann, jetzt kippt es oder wird problematisch. Aber sicher sollte es nach normativem Demokratiemaßstab so sein, dass möglichst viele WählerInnenstimmen durch Mandate im Parlament abgebildet werden. Daher braucht es nach meiner Auffassung eine Diskussion, ob die Fünfprozenthürde noch angemessen ist, gerade angesichts der sich weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft.
Das klingt, als würden Sie der Auffassung zuneigen, diese Hürde brauchen wir nicht mehr?
Ja, eine bundesweite Sperrklausel gab es auch bei der ersten Bundestagswahl 1949 nicht. Insofern kann die Angst vor einer Parteienzersplitterung wie zu Weimarer Zeiten gar nicht so riesig gewesen sein. Sie wurde erst 1953 eingeführt, obwohl es schon bald zu einem massiven Konzentrationseffekt für Union, SPD und FDP kommen sollte. Heute droht die Gefahr aus einer anderen Ecke: Ich glaube, dass rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien in den Parlamenten viel gefährlicher für die liberale Parteiendemokratie sind als Klein- und Kleinstparteien, die eine große Bandbreite unterschiedlichster Repräsentationsansprüche vertreten.
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