Politologe über jugendliche Flüchtlinge: "Jugendhilfe muss an erste Stelle"
Nach dem Suizid eines georgischen Flüchtlings in Hamburg: Jugendliche, die ohne Verwandte nach Deutschland fliehen, brauchen Unterstützung, fordert Fachmann Berthold.
taz: Herr Berthold, in welcher Situation leben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland?
Thomas Berthold: Wir gehen davon aus, dass es in Deutschland mindestens 6.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben - und ihre Situation hängt sehr davon ab, in welcher Stadt und in welchem Bundesland sie landen. Gesetzlich ist vorgesehen, dass das Jugendamt vor Ort den Flüchtling zunächst in Obhut nimmt, sich also um eine Übernachtungsmöglichkeit in einer geeigneten Einrichtung kümmert und die ersten Schritte in Deutschland begleitet.
28, ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Referent beim Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge.
Wie sieht es in der Praxis aus?
Im Idealfall kommen die Jugendlichen nach dieser Anfangsphase in sogenante Clearinghäuser, in denen es Fachpersonal und Dolmetscher gibt. Dort haben sie drei bis sechs Monate Zeit und Ruhe, das Erlebte zu bearbeiten und Perspektiven zu entwickeln. Da wird zum Beispiel überlegt, ob es woanders Familie gibt und eine Weiterwanderung sinnvoll ist, oder wo das diagnostizierte Trauma besonders gut behandelt werden kann. Gleichzeitig muss die ausländerrechtliche Situation geklärt werden.
Und wenn es nicht ideal läuft?
Dann landen sie, meist 16- und 17-Jährige, in Gemeinschaftunterkünften mit erwachsenen Asylbewerbern, wo es keine adäquate Betreuung für Jugendliche gibt. Oder in Abschiebehaft wie jetzt in Hamburg. Es wird immer problematisch, wenn nicht die Jugendhilfe an erster Stelle steht , sondern das Ausländerrecht. Und das passiert in Hamburg, aber auch in anderen Bundesländern immer wieder.
Welche psychologischen Konsequenzen hat das?
Die Jugendlichen haben die Erfahrung gemacht, sich nur auf sich selbst verlassen zu können. Sie waren enorm hohen Belastungen ausgesetzt zum Beispiel in Flüchtlingslagern, manche haben bei der Ermordung der Eltern zugesehen. Sie haben keine Möglichkeit, all das zu verarbeiten. Sie müssen erst wieder lernen, Vertrauen aufzubauen, Beziehungen zu entwickeln.
Werden sie dabei unterstützt?
In Städten wie Berlin, München oder Düsseldorf gibt es Einrichtungen, in denen Spezialisten für jugendliche Flüchtlinge arbeiten. Dort gibt es Gruppen von Jugendlichen aus dem gleichen Land, die sich in Gesprächsrunden austauschen. Und dann gibt es die ganz reguläre Psychotherapie. Ganz viel ist aber von den Sozialarbeitern in den Einrichtungen abhängig. Wenn es dort Kontakt gibt und die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, ist viel gewonnen.
Was passiert nach dieser Übergangsphase?
Die Jugendlichen bekommen gleich zu Beginn einen Vormund, mal sind es überarbeitete Amtvormünder, die viel zu viele Fälle haben, mal engagierte Einzelpersonen. Nach dieser Übergangsphase kommen sie je nach Bedarf und Alter in betreute Wohngruppen oder Kinderheime. Dann gibt es Deutsch- und Integrationskurse und den ganz normalen Schulbesuch. Das ist allerdings bei den über 16-Jährigen ein Problem, weil für diese schließlich die Schulpflicht nicht mehr gilt.
Was bedeutet Abschiebehaft für einen 17-Jährigen?
Das löst eine große Unsicherheit aus. Die Hoffnung, in Deutschland Schutz zu suchen, wird in Frage gestellt. Allein schon die Androhung von Abschiebehaft hat verheerende Folgen. Die Jugendlichen haben Angst, und das nimmt ihnen Kraft, die sie brauchen, um Perspektiven zu entwickeln. INTERVIEW: SABINE AM ORDE
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