Politologe über Krise im Mittleren Osten: „Das Atomabkommen ist nicht tot“
Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik befürchtet nach den Angriffen einen einseitigen iranischen Einfluss im Irak. Für den Atomdeal sieht er Hoffnung.
taz: Herr Perthes, weitere Sanktionen, aber keine militärischen Schritte – so reagierte US-Präsident Trump am Mittwoch auf iranische Angriffe gegen Stützpunkte der Anti-IS-Koalition. Ist der Höhepunkt der Eskalation erreicht?
Volker Perthes: Vorerst scheinen beide Seiten von der Klippe zurücktreten zu wollen. Für den weiteren Verlauf kommt es aber nicht nur darauf an, ob die USA, wie von Präsident Trump angekündigt, auf eine weitere militärische Eskalation verzichten. Genauso wichtig ist, ob Iran seine Vergeltungsmaßnahmen tatsächlich, wie der Außenminister dies hat verlauten lassen, für „abgeschlossen“ betrachtet und zudem seine irakischen Verbündeten davon abhält, ihrerseits weitere tödliche Angriffe auf amerikanische Ziele zu unternehmen. Sollte beides der Fall sein, könnte die Lage sich erst einmal stabilisieren, selbst wenn Drohungen und Abschreckungsgesten beider Seiten weiter im Raum stehen.
Droht dennoch ein neuer Irakkrieg?
Ein neuer Irakkrieg droht meines Erachtens nicht. Was wir aber mit großer Sorge betrachten müssen, ist die Destabilisierung des Irak unter dem Druck des Konflikts. Bisher bestand quasi eine geteilte amerikanisch-iranische Hegemonie über das Land: Man hat sich indirekt darauf geeinigt, wer etwa der irakische Ministerpräsident wird. Man hat zeitweise – nicht koordiniert, aber durchaus gemeinsam – den sogenannten Islamischen Staat im Irak bekämpft. Wenn der Druck auf die irakische Regierung zunimmt, die Amerikaner ganz oder teilweise aus dem Irak hinauszukomplimentieren, entstünde eine einseitige iranische Hegemonie im Irak. Das würde negative Reaktionen bei irakisch-nationalistischen, kurdischen, sunnitischen Teilen der Bevölkerung hervorrufen, Unabhängigkeitsbestrebungen in Irakisch-Kurdistan verstärken und möglicherweise den Staat zerreißen.
Ging es den USA in den letzten Wochen und Monaten um Eskalation?
Ich glaube, der gegenwärtigen amerikanischen Politik im Nahen und Mittleren Osten fehlt die strategische Weitsicht, aber es ist keine Politik, die auf Krieg setzt. Es ist eher eine Politik, die durch ihre eigenen strategischen Fehler – wozu zuallererst die Kündigung des Atomabkommen gehörte – vor lauter schlechten Optionen steht. Wenn das Atomabkommen völlig scheitern sollte, befinden sich die Amerikaner in einer Situation, die genau durch das Abkommen hätte verhindert werden sollen: dass Iran näher an die Fähigkeit heranrückt, sein eigenes Atomprogramm militärisch zu nutzen. Näher „an die Bombe“ also, wie es in den Medien oft heißt.
Volker Perthes, 61, ist Politikwissenschaftler und war von 2005 bis 2020 Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die SWP berät die Bundesregierung in der Außen- und Sicherheitspolitik. Aktuell ist Perthes UN-Sondergesandter für den Sudan.
Wie steht es derzeit um das Atomabkommen? Ist der Atomdeal noch irgendwie zu retten?
Iran hat das Atomabkommen nicht aufgekündigt, aber die fünfte Phase dessen verkündet, was es selbst „die Reduktion seiner Verpflichtungen unter dem Atomabkommen“ nennt. Ich würde eher von der fünften Phase von Verstößen gegen das Abkommen sprechen. Aber das Atomabkommen ist noch nicht tot. Die politischen Institutionen, die damit entstanden sind, existieren weiter. Die internationale Atomenergiebehörde – und das ist sehr, sehr wichtig – führt weiter Inspektionen in Iran durch. Und Iran hat zugesagt – und das kann man glauben oder nicht –, dass jeder dieser fünf Schritte reversibel ist, wenn eine angemessene Bewegung auf der anderen Seite zu sehen ist.
In der Aushandlung des Atomabkommens hat Deutschland eine zentrale Rolle eingenommen. Was müsste jetzt von deutscher Seite geschehen?
Letztlich wäre das Ziel – aber das setzt Deeskalation zwischen Iran und den USA voraus –, zumindest eine Abmilderung der amerikanischen Sanktionen zu erreichen, gleichzeitig iranische Schritte zurück zu den Verpflichtungen unter dem Atomabkommen zu erwirken. Deutschland hat als einer der sechs Staaten, die ursprünglich das Abkommen mit Iran und der EU unterzeichnet haben, weiterhin eine zentrale Rolle. Hinzu kommt, dass Deutschland nach wie vor auf der Spitzenebene einen guten Draht nach Washington hat. Da ist es sowohl im Interesse der Bundesrepublik als auch eine Verpflichtung, hier diplomatisch kreativ zu bleiben.
Kann Deutschland im Iran-Konflikt überhaupt etwas ausrichten?
Die Europäer können zusammen mit Partnern Hilfe zur Deeskalation anbieten, und das ist nicht wenig. Wenn es tatsächlich so ist, dass beide Seiten deeskalieren wollen – und von beiden Seiten haben wir das Wort Deeskalation gehört –, brauchen sie möglicherweise Unterstützung dabei. Schon deshalb, weil die direkten Kommunikationskanäle fehlen. Bei den arabischen Staaten im Persischen Golf sehen wir ebenfalls große Sorge vor einer Eskalation. Eine gemeinsame europäisch-golfarabische Initiative für eine regionale Konferenz zu Vertrauensbildung, Sicherheit und Kooperation wäre ein sehr wünschenswerter Schritt. Hier ließen sich Fäden wieder aufgreifen, die im letzten Jahr gesponnen wurden, etwa beim G7-Gipfel in Biarritz oder danach bei der UN-Generalversammlung.
Ursula von der Leyen forderte die EU auf, „die Sprache der Macht zu lernen“. Sie wolle eine „geopolitische Kommission“ führen. Die EU war allerdings recht zögerlich und meldete sich erst nach Tagen des Schweigens zu Wort …
Geben wir der Kommission mindestens die 100 Tage, die man auch jeder Regierung geben würde. Das Wort von der „geopolitischen Kommission“ ist natürlich sehr schön, aber wenn man solche Wörter benutzt, muss man sie auch mit Inhalt füllen. Was das heißt? Meiner Meinung nach nicht, dass sich die EU zum weltweit operierenden militärischen Akteur entwickelt. Sondern dass sie ihre eigenen zivilen, diplomatischen, entwicklungspolitischen, auch militärischen Instrumente ausbaut, um Stabilität in ihr unmittelbares strategisches Umfeld zu projizieren. Darin waren die EU-Staaten in den letzten Jahrzehnten nicht besonders gut. Aber all das sind Bereiche, wo die EU ein stärkeres Interesse hat als die Vereinigten Staaten. Denn mit sinkendem Interesse am Ölfluss aus dem Persischen Golf sinkt auch das amerikanische Eigeninteresse an Stabilität in der Region.
Kann die EU eine eigenständige Nahost-Politik betreiben oder besteht da doch eine starke Abhängigkeit zu den USA?
Erstens: Gemeinsam könnten die Europäer eine eigenständige Nahost-Politik machen, weil die EU eben doch einen ziemlichen Machtfaktor darstellt. Zweitens: Die USA wird es ernst nehmen, wenn die Europäer mit einer einheitlichen Politik auftreten. Drittens: Die USA wollen sich als militärische Kraft aus den Konfliktgebieten im Nahen und Mittleren Osten herausziehen, sind aber bisher – das haben wir nicht immer zugegeben – von den Europäern aufgefordert worden, zu bleiben. Die Europäer waren sich nicht sicher, ob sie mit den Herausforderungen in der Region umgehen könnten, auch wenn sie letztendlich die besseren Ideen zur Konfliktlösung haben, zum Beispiel in Hinblick auf Fähigkeitsentwicklung oder den Aufbau nachhaltiger Staatlichkeit.
Teile der Nato-Truppen und der Bundeswehr-Mission verlassen zeitweise das Land. Grüne und Linke fordern den kompletten Abzug – wäre das richtig?
Ich glaube, es wäre verfrüht, denn der sogenannte Islamische Staat ist keineswegs besiegt und sowohl in Syrien als auch im Irak weiterhin aktiv. Wenn der Irak destabilisiert und die Herrschaftssituation in den verschiedenen Gebieten Syriens unklar ist, wäre das Verschwinden militärischen Drucks auf den IS wohl die schlechteste Option. Die Aufgabe der Nato ebenso wie einzelner europäischer Staaten wie Deutschland ist deshalb vielmehr, mit der irakischen Regierung und anderen Staaten in der Region darüber zu reden, welche Formen externer Unterstützung gebraucht werden, um mit der Herausforderung Islamischer Staat fertig zu werden.
Wie könnte eine solche Unterstützung zur Bekämpfung des IS aussehen?
Wenn wir die Souveränität dieser Staaten respektieren, sollten wir sie fragen, bevor wir definieren, wie diese Unterstützung zu gestalten ist. Die irakische Regierung hat selbst klargemacht, dass Ausbildung ein ganz zentrales Element für das Land ist. Vermutlich werden die Iraker auch zivile Unterstützung brauchen. Da geht es um konkrete Dinge wie Strom- und Wasserversorgung. Wenn Sie im Sommer bei 50 Grad ohne Strom, Elektrizität und Arbeitsplatz in Ihrem abgelegenen Dorf sitzen, ist der fruchtbare Boden für die Rekrutierung durch extremistische Organisationen sicher eher da, als wenn Sie zur Überzeugung kommen, dass die Regierung etwas für die Verbesserung Ihrer Situation tut. Es geht also um Stabilisierung und zivilen Wiederaufbau. Da haben die europäischen Staaten und auch Deutschland einiges anzubieten.
Sie sagten, dass der komplette Abzug der Mission dem Islamischen Staat in die Hände spielen würde – aber können 140 Bundeswehrsoldaten denn einen Unterschied machen?
140 Soldaten, die kämpfen, würden keinen Unterschied machen, aber das tun sie ja richtigerweise nicht. Aber 140 Ausbilder machen sehr wohl einen Unterschied.
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