Politisches Erdbeben in Irland: Früher IRA-Flügel, jetzt Wahlsieger
Unser Autor lebt seit über 40 Jahren in Irland. Er hat die Wandlung der Partei Sinn Féin aus der Nähe erlebt – auch durch seinen Schwiegervater.
Das war 1976, als der politische Konflikt in einer heißen Phase steckte. Fast 300 Menschen wurden in dem Jahr getötet, die Hälfte davon von der Irisch-Republikanischen Armee (IRA). Damals erschien es ausgeschlossen, dass Sinn Féin, der politische Flügel der IRA, 30Jahre später an der Regierung in Nordirland beteiligt sein würde. Noch unwahrscheinlicher war es, dass die Partei zur nach der Stimmenzahl stärksten Kraft der Republik Irland würde. Genau das ist bei den Wahlen vorigen Samstag geschehen.
Die IRA war erst Ende der 60er Jahre wieder aktiv geworden, um die katholischen Viertel vor den Angriffen der protestantisch-loyalistischen Milizen zu schützen. Eine dieser Gruppen, die Ulster Volunteer Force (UVF), erschoss Billy McAteer vor seiner Haustür, weil er mit einer Protestantin verheiratet war. Billy war 40, Evelyn war zwei Jahre jünger und mit dem fünften Kind schwanger. Die UVF mochte keine sogenannten Mischehen. Die Mörder standen noch wochenlang im Ormeau Park auf der anderen Seite des Flusses Lagan, an dem unsere Straße endete, und johlten: „Wir haben McAteer getötet.“
Im selben Jahr weigerte sich der inhaftierte IRA-Mann Kieran Nugent, die Gefängnisuniform anzuziehen, und hüllte sich stattdessen in eine Decke. Es war der Beginn des „Deckenstreiks“, der schließlich 1981 in den Hungerstreik mündete, bei dem zehn Gefangene starben.
Bei Sinn Féin, dem politischen Flügel der IRA, setzte sich danach langsam die Erkenntnis durch, dass eine politische Strategie neben dem bewaffneten Kampf erfolgversprechend sein könnte. 1986 beschloss ein Parteitag, den Boykott des Dubliner Parlaments aufzugeben und die Sitze einzunehmen. Der Boykott des Londoner Unterhauses besteht bis heute.
Mit elf Jahren Botengänge für die IRA
Während meiner Zeit in Belfast lernte ich John Lyons kennen, der später mein Schwiegervater wurde. Er war schon als Jugendlicher in die IRA eingetreten; mit elf machte er Botengänge. 1940 wurde er nach einem Munitionsraub zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt, aber nach acht Jahren wurde er vorzeitig entlassen und nahm seine IRA-Aktivitäten wieder auf. Unter anderem machte er 1973 bei der Befreiung eines IRA-Stabschefs und von dessen Stellvertreter mit, die mit einem gekaperten Hubschrauber aus einem Dubliner Gefängnis entkamen. Freitags gingen John und ich immer in den Pub, manchmal brachte er alte Kampfgefährten mit.
„Sinn Féin und IRA haben immer viel zu sehr Fianna Fáil vertraut“, hatte John einmal gesagt. Diese Partei habe ihre Prinzipien stets verraten, es sei ihr immer nur um die Macht gegangen. Fianna Fáil hatte sich zwar von der IRA abgespalten, weil sie den Friedensvertrag mit England nach dem Unabhängigkeitskrieg 1922, der die Insel teilte, nicht akzeptierte, aber schon wenige Jahre später saß sie im Parlament der Republik, die ja ein Produkt der Teilung war. Aus dem Teil der IRA, der für den Vertrag war, entwickelte sich Fine Gael.
Beide Seiten fochten einen Bürgerkrieg aus, der die Nation und sogar Familien spaltete. Am Ende behielten die Vertragsbefürworter die Oberhand. Da die Iren ein langes Gedächtnis haben, wird bei vielen das Wahlverhalten dadurch bestimmt, auf welcher Seite der Opa gekämpft hat. Eine offizielle Koalition der beiden Parteien kommt deshalb nicht infrage, denn das würden die meisten als Verrat empfinden – auch wenn sich die Parteien in ihrer konservativen Ausrichtung kaum unterscheiden.
Sie haben Irland seit der Unabhängigkeit abwechselnd regiert. Selbst Korruptionsskandale wurden an der Wahlurne nicht bestraft. Sicher, eine absolute Mehrheit gab es schon lange nicht mehr, aber mithilfe der Grünen oder der Labour Party blieb man an der Macht. Die Juniorpartner wurden bei den nächsten Wahlen abgewatscht, die großen Parteien hingegen nicht. Es war zum Haareraufen.
Irland war damals fest in der Hand der katholischen Kirche. Sie bestimmte, was erlaubt und was verboten war – bis hin zur Zensur von Büchern und Filmen. In sozialen Fragen hat sich Irland jedoch in den vergangenen 30 Jahren stark verändert, nicht zuletzt weil sich die Kirche durch ihre pädokriminellen Machenschaften selbst demontiert und ihren Anspruch als moralische Instanz verspielt hat. Verhütungsmittel sind überall erhältlich, Homosexualität wird nicht mehr bestraft, Scheidung, gleichgeschlechtliche Ehe und Abtreibung sind legalisiert. Es gab für uns viele Anlässe, zu feiern.
Nur in der Politik tat sich nicht viel: Die beiden etablierten Parteien stellten noch immer die Regierung. Es gab eigentlich keinen Grund zu der Annahme, dass sich das bei den Wahlen am vergangenen Samstag ändern würde. Das tat es aber, und wie. Sinn Féin gewann mehr Erststimmen als alle anderen Parteien und erhielt 37 Sitze – genauso viele wie Fianna Fáil, die aber zusätzlich den Parlamentssprecher stellt, der automatisch gewählt wurde. Die Grünen vervierfachten ihren Anteil auf 12 Sitze. Endlich erlebte ich das politische Erdbeben, auf das ich kaum noch zu hoffen gewagt hatte.
Es waren die jungen Leute, die dafür gesorgt haben. Ihnen waren Themen wie Obdachlosigkeit, irrsinnige Mieten und das kaputte Gesundheitssystem wichtiger als Loyalitäten aus Bürgerkriegszeiten. Das macht Hoffnung auf eine mittelfristige Abkehr von den etablierten Parteien. Und trotz Einwanderung, sozialer Missstände und stetig breiter werdender Schere zwischen Arm und Reich hat es keinen Aufschwung von Nazi-Parteien gegeben. Die Irish Freedom Party, Anti-Corruption Ireland und die National Party kamen gar nicht aus den Startlöchern, für keine von ihnen war ein Mandat in Sichtweite.
Die anstehenden Regierungsverhandlungen werden Wochen dauern. Und wenn man sich nicht einigen sollte, könnte es Neuwahlen geben. Für Sinn Féin wäre das durchaus vorteilhaft, hat man doch das eigene Potenzial unterschätzt und nicht genug Kandidaten aufgestellt. So wurde mindestens ein halbes Dutzend Sitze verschenkt, vermutlich sogar mehr. Fianna Fáil und Fine Gael dürften alles daransetzen, Neuwahlen zu verhindern, denn bei der jetzigen Konstellation braucht man wohl eine der beiden Parteien für eine Regierung.
Ich fürchte, dass alles auf eine Koalition von Sinn Féin mit Fianna Fáil hinausläuft – mit Unterstützung einer der kleineren Parteien. Die Worte meines Schwiegervaters, der Sinn Féin vor Fianna Fáil warnte, sind so aktuell wie damals.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“