Politisches Buch zur Türkei: Scheitern des islamischen Liberalismus
Das türkische Modell galt mal als Hoffnungsträger. Cihan Tuğal analysiert, was in der Zwischenzeit in der Region passiert ist.
Beim Nato-Gipfel 2004 in Istanbul hielt der damalige US-Präsident George W. Bush eine Rede. Mit Blick auf die Bosporusbrücke sagte er: „Nach 150 Jahren demokratischer und sozialer Reformen verkörpert Ihr Land ein Modell für andere Nationen und bildet Europas Brücke zur Welt. Ihr Erfolg ist eine Voraussetzung für eine von Fortschritt und Frieden geprägte Zukunft in Europa und im Nahen Osten.“ Das „türkische Modell“, da waren sich westliche Medien und Politiker einig, ist ein Vorbild für die ganze arabische Welt.
13 Jahre später ist von diesen Hoffnungen nicht viel übrig: Heute ist die Türkei ein Land im Ausnahmezustand. Der islamische Liberalismus ist nicht nur dort gescheitert – die politischen Entwicklungen im Nachgang zum Arabischen Frühling zeigten auch, dass sich das politische Modell nicht exportieren lässt. Wie ist es dazu gekommen?
In seinem Buch „Das Scheitern des türkischen Modells“ argumentiert der Soziologe Cihan Tuğal, dass die Ursachen der Krise in der Türkei viel tiefer liegen als in Erdoğans zunehmendem Autoritarismus. Der Autor zeigt, wie nach dem Putsch von 1980 mit der Herausbildung einer Generation von islamischen Intellektuellen eine hegemoniale Alternative zum säkularen Kemalismus entstanden ist. In einer vergleichenden Analyse der Dynamiken in Ägypten, Tunesien, dem Iran und der Türkei rekonstruiert Tuğal detailliert den Aufstieg und Fall des türkischen Modells.
Anhand der gesellschaftspolitischen Voraussetzungen der vier Staaten, die unter säkularen Eliten modernisiert wurden, untersucht er, wie die arabischen Revolten dem türkischen Modell den Boden unter den Füßen wegzogen. Der islamische Liberalismus türkischer Couleur, also die Verbindung von Demokratie, freier Marktwirtschaft und moderat konservativem Islam, galt westlichen Beobachtern bis zum Arabischen Frühling als die vielversprechendste Strategie im Nahen Osten, um den Islam regierbar zu machen.
Imperiale Überdehnung
Der Erfolg des Modells beruhte Tuğal zufolge darauf, die Herausforderung durch den politischen Islam anzunehmen, statt ihn zu unterdrücken. Seine Anziehungskraft habe das türkische Modell gerade vor der Negativfolie des Iran und des Militärstaats in Ägypten bezogen. Deshalb sei es per definitionem nicht auf die gesamte Region übertragbar.
Konzise zeichnet der Soziologe nach, wie die Revolten in den arabischen Ländern daran scheiterten, in dem entstandenen Vakuum eine politische Alternative herauszubilden, die verschiedene gesellschaftliche Schichten mobilisiert. Die Hoffnungen des Westens, die arabischen Länder würden nach dem Arabischen Frühling dem türkischen Modell folgen, zerschlugen sich 2013 mit dem Militärputsch in Ägypten. Das türkische Streben nach regionalem Einfluss war gescheitert.
Cihan Tuğal: „Das Scheitern des türkischen Modells“. Kunstmann Verlag, München 2017, 320 Seiten, 24 Euro
Die imperiale Überdehnung führte laut Tuğal zur Verstärkung des Zwangs im Innern. Die Gezi-Proteste im selben Jahr markieren für den Autor das Ende des türkischen Modells. Erdoğans Macht beruhe seitdem auf Zwang statt auf Konsens. Zwar habe das Regime seinen Machtblock weiter gefestigt – aber nur indem es sich von säkularen und islamischen Liberalen entfernt habe.
Tuğal zeigt fundiert auf, wie sich die hegemonialen Dynamiken im Nahen Osten gegenseitig beeinflussen, ohne dass er die Rolle der westlichen Staaten vernachlässigt. Kenntnisreich durchschreitet er die gesellschaftspolitischen Entwicklungen im Nahen Osten seit dem Zweiten Weltkrieg unter dem Gesichtspunkt von nationalen, regionalen und globalen Machtverhältnissen. Unkompliziert ist die Lektüre von Tuğals Buch nicht – aber äußerst erhellend.
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