Politische Romane der Gegenwart: Innen ist es aufregender

Das hessische Wahlergebnis weist vertrackte sowie schillernde Macht- und Mehrheitsverhältnisse auf. Aktuelle politische Romane haben dafür noch keine Vokabeln und Dramaturgien.

Aus einer ästhetischen Perspektive gesehen ist das hessische Wahlergebnis, das sich in der Neukonstituierung des Landtages manifestiert, von berückender Schönheit. Zwei große Einheiten von nahezu identischem Gewicht, die jede die höhere Position zu erreichen suchen. Drei kleinere Einheiten, die sich voneinander abstoßen, von denen aber zwei zusammenfinden müssen, um etwas zu bewirken. Da hat der Wähler etwas Schillerndes hinbekommen: das Fünf-Parteien-System als Möglichkeitenmaschine, mit vielen eingebauten Fallen des Scheiterns in der Praxis.

Wie ein in sich selbst schwingendes Mobile wirkt dieses Gebilde. Ein Romanautor, dem so etwas eingefallen wäre, hätte womöglich gezögert, es aufzuschreiben: Er hätte Sorge gehabt, dass es zu ausgedacht erscheinen könnte. Wie am Reißbrett entworfen ist diese hessische Konstellation ja schon.

In der Tat folgen die politischen Romane dieser Saison anderen Mustern. Michael Kumpfmüller verspricht in seinem am Literaturbetrieb geradezu abgeprallten Roman "Nachricht an alle" zu beschreiben, wie es wirklich zugeht im Bereich der Politik - und kann sich Politik doch nur als hochgedrehtes Auf-der-Stelle-Laufen vorstellen und als ein Geschäft, das von Figuren betrieben wird, die gar nicht recht wissen, was sie in den Schaltzentralen der Macht verloren haben. In Bewegung gesetzt wird bei Kumpfmüller Politik und politisches Leben durch soziale Proteste von außen und durch die Liebesgeschichte des Innenministers mit einer Reporterin, was die üblichen Grübeleien über verfehltes Leben nach sich zieht.

In Dirk Kurbjuweits sehr viel sentimentalerem Roman "Nicht die ganze Wahrheit" ist die Konstellation ganz ähnlich. Diesmal ist es ein Fraktionsvorsitzender, den eine Mischung aus Freundschaft und Konkurrenz mit dem Kanzler verbindet und der eine Affäre hat, diesmal mit einer jungen Abgeordneten der eigenen Fraktion, die von den Medien in eine Rebellenposition hineinmanövriert wird. Genau wie bei Michael Kumpfmüller wird hier von innerlich zerrissenen Politikerleben erzählt, davon, dass die klaren Fronten zwischen Gut und Böse verwischt sind, und dass sich im diffusen Außen der Politik - der Gesellschaft - Unmut anstaut. Und genau wie bei Kumpfmüller bleibt der Politikbetrieb selbst Staffage; Gesetzesvorlagen, Ausschusssitzungen und Geheimabsprachen kommen zwar vor, bleiben aber dramaturgisch Hintergrundrauschen. Immerhin erfährt man bei Kurbjuweit, wofür die modernen Fahrstühle im Abgeordnetenhaus gut sind. Hier können der Fraktionsvorsitzende und die Jungabgeordnete sich heimlich treffen und Küsse austauschen.

Michael Kumpfmüllers Roman wirkt bei alledem streckenweise etwas musterschülerhaft, wie ein Grundkurs zur Frage "Politik wird auch nur von Menschen gemacht". Dirk Kurbjuweits Roman ist in Wirklichkeit eine in politischer Kulisse angesiedelte Studie über heimliche Liebe in Zeiten des Mailverkehrs, ein Chandlerscher Privatdetektiv spielt auch eine Rolle. Und was das Politische betrifft, wirken beide Romane schon jetzt seltsam antiquiert. Das liegt nicht allein daran, dass beide Autoren noch rot-grüne Versatzstücke verarbeiten; es gibt hier noch Alphamänner, die Rotwein trinken, und das Vorleben der Spitzenpolitiker als Straßenrevoluzzer vermag noch Interesse zu erregen. Das liegt vor allem daran, dass der Politikbetrieb in beiden Romanen bei aller Aufgeregtheit seltsam blutleer erscheint.

Das Schillernde der hessischen Konstellation hätte in beiden Erzähldramaturgien gar keinen Platz. In Hessen wird ja gerade versucht, den Außendruck, von dem beide Romane erzählen, als politisches Problem zu behandeln - die gesellschaftliche und soziale Krise bildet sich hier in einer Neuformierung der Parteienlandschaft ab; die Linke hat sich ihren Platz gesichert, und damit müssen alle Parteien erst noch umzugehen lernen. Diese hoch politischen Bewegungen innerhalb des Politikbetriebs mit all ihren Begleiterscheinungen für Karrieren, Schicksale und Selbstverständnisse finden in den aktuellen Formen von politischen Romanen noch keinen Ausdruck.

Kumpfmüller und Kurbjuweit arbeiten mit einer Dialektik aus Innen und Außen des politischen Systems: Wie fühlt es sich an, drinnen zu sein, wie verändert man sich, wenn man hereinkommt, was wird außen vor gelassen? Es sind diese Muster, die derzeit etwas abgestanden wirken. Denn das Innenleben der Politik ist mindestens ebenso spannend. Die hessische Konstellation sorgt bei allen Parteien für Reflexionsdruck, selbst bei der FDP. Es gibt dabei einen leidenschaftlichen Kampf der Zukunftserzählungen bis aufs Messer; die Erzählungen der einen ("neue Linke") werden von den anderen zu demontieren versucht ("Ypsilantis Blamage"). Die Kompliziertheit des Politikbetriebes selbst sprengt die Verknüpfung von Affärenlyrik, Selbstzweifelprosa und Krisendrama auf. Stimmt im Detail alles, was Kumpfmüller und Kurbjuweit aufschreiben, aber ihr Rahmen ist zu eng. Sie sind zu nah an dem, was eben erst war, und können es deshalb nicht durchdringen.

In Hessen gilt es eben wirklich, ein hartes Brett zu bohren, wie Max Weber es von der Politik forderte. Man kann es auch so sagen: Die ganze Gesellschaft sucht derzeit nach einer politischen Erzählung. Und diese beiden politischen Romane der Gegenwart humpeln beflissen hinterher.

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Dirk Knipphals, Jahrgang 1963, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Kiel und Hamburg. Seit 1991 Arbeit als Journalist, seit 1999 Literaturredakteur der taz. Autor des Sachbuchs "Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind" und des Romans "Der Wellenreiter" (beide Rowohlt.Berlin).

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