Politische Karikaturen in Frankreich: Unverzichtbare Verzerrung
Im 19. Jahrhundert schuf man in Frankreich die Grundlagen drastischer Darstellungsformen. Ohne sie gäbe es weder HipHop noch Karikaturen.
Es ist wichtig, nach dem fundamentalen und für mehrere Pariser Kollegen todbringenden Angriff auf die Freiheit der Presse im Allgemeinen und die Existenz der linken französischen Satirezeitung Charlie Hebdo im Besonderen, an Charles Baudelaire und seine Bemerkung zu erinnern: „Die Karikatur ist der reale Boden der Modernität.“
Wichtig auch, weil das Paris von Baudelaire seinen Platz in der kollektiven Geschichte hat als „Metropole des 19. Jahrhunderts“, von der viele der entscheidenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen ausgingen, die das demokratische Selbstverständnis unserer westlichen Welt noch heute prägen.
Das kann zum Beispiel bedeuten: Ohne die rund 200-jährige französische Tradition der politischen Karikatur gäbe es keinen HipHop, den sich die mutmaßlichen Attentäter von Paris angehört haben, bevor sie ihrem archaischen Hass eine vormoderne Form gegeben haben. HipHop ist eine aktuelle Form von karikaturhafter und comichafter Übertreibung, in der grobe Verzerrung, Schmähung und Beleidigung an der Tagesordnung sind. Drastischer Ausdruck ist eine Grundfeste der freien Meinungsäußerung.
Die Freiheit der Presse wurde mit Frechheiten und boshaften Darstellungen der politischen Karikatur im Frankreich des 19. Jahrhunderts überhaupt erst möglich gemacht. Dafür gingen ihre Urheber ins Gefängnis, setzten ihre Karrieren aufs Spiel und nahmen drakonische Strafen und Entbehrungen in Kauf. In den Karikaturen aber fanden sie damals das geeignete Gefäß, um die Grunderfahrungen im Frankreich jener Zeit – die rasch einsetzende Industrialisierung und die rasante Verstädterung und damit verbundene Ungerechtigkeiten – darzustellen.
Beeinflussung von deutschen Intellektuellen
Kaum jemand hat das so raffiniert und eindrucksvoll darzustellen vermocht wie der französische Karikaturist und Künstler Honoré Daumier (1808–1879), auf den sich Baudelaires These direkt bezog. Daumier hat ein Werk von mehr als 4.000 Lithografien, Holzschnitten, Zeichnungen und Gemälden hinterlassen. Darunter eine Karikatur von 1857: Zwei Bürger von Paris mit Angstfratzengesichtern unterhalten sich auf der Straße über religiös motivierte Gewalt zwischen Katholiken und Protestanten.
Charlie-Hebdo-Karikaturen
Das Frankreich des 19. Jahrhunderts hat auf deutsche Intellektuelle immer besonders abgestrahlt. Ganz bewusst ließen sich etwa Heinrich Heine und später Walter Benjamin von den Darstellungswelten der bedeutendsten französischen Karikaturisten des 19. Jahrhunderts, Grandville und Daumier, anregen.
Wie Karikaturen gesellschaftliche Schieflagen grotesk oder paradox verzerrt wiedergeben, die Missgeschicke Einzelner oder die bizarren Verwirrungen vieler in wenigen Strichen und in bildhafter Form darstellen und mit einer Textunterzeile versehen, das Unsagbare ins Absurde ziehen, wurde in Paris vervollkommnet, begünstigt durch die Erfindung der Lithografie (1796) und der wachsenden Bedeutung der Massenmedien.
Zensur seitens der Machthaber
Inhalte und Bildwirkungen von Zeitungen wurden erst im 19. Jahrhundert diskutiert. Debattierclubs entstanden, die sich mit der Wirkung auseinandersetzten. Die Folge war Zensur seitens der Machthaber. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, die Grundsätze der Französischen Revolution von 1789, wurden nun von wachsender Ungleichheit, eingeschränkten Freiheiten und Konflikten verdrängt.
Honoré Daumier leitete etwa seine republikanische Haltung, die in unzähligen bösartigen Karikaturen von Personen des französischen Justizwesens zum Ausdruck kam, direkt von der Menschenrechtsforderung von 1789 ab. Im repressiven Klima nach 1830 gedieh die politische Karikatur, auf die sich die mediale französische Gegenwart und Zeitungen wie Charlie Hebdo oder Le Canard enchaîné noch heute berufen. Ihre Vorläufer sind oppositionelle Zeitungen wie Charivari aus dem 19. Jahrhundert.
Wenn die Karikatur in Zeiten von Comedy, Internet und der Pegida-Bewegung hierzulande ein Schattendasein fristet, dann ist spätestens jetzt der Augenblick, an ihre große gesellschaftliche Bedeutung und ihre lange Tradition in Frankreich zu erinnern. „Die Spitzfindigkeiten eines Grandville bringen gut zum Ausdruck, was Marx die ,theologischen Mucken‘ der Ware nennt.“ Hat Walter Benjamin an einer Stelle in seinem „Passagenwerk“ notiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen