Politik: Größenwahn und Anmaßung
Seit die AfD vor neun Jahren in den Landtag von Baden-Württemberg eingezogen ist, zeigen ihre Abgeordneten, dass sie in relevanten politischen Fragen nichts zu bieten haben. Trotzdem tun sie so, als könnten sie vor Kraft kaum laufen. Im Stuttgarter Gemeinderat ist das nicht anders.

Von Johanna Henkel-Waidhofer und Korbinian Strohhuber
Wie ein kleiner künftiger Diktator tritt der Redner ans Pult. Miguel Klauß ist bekannt für verbale Entgleisungen. Seit 2021 sitzt er im Landesparlament, schnell handelte er sich einen Sitzungsausschluss ein, weil er den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier einen „Hetzer“ und „Spalter“ genannt hatte. Aber schlimmer geht‘s immer bei der AfD. Vergangene Woche gab sich der in Teilzeit bei Daimler beschäftigte gelernte Mechatroniker vergiftet generös.
„Wir reichen Ihnen die Hand, weil wir Sie noch nicht für die Demokratie aufgegeben haben“, sagt Klauß zu den Abgeordneten der anderen vier Fraktionen und stößt wüste Prognosen aus. „Sie können sich jetzt entscheiden, ob Sie die AfD akzeptieren und die Ausgrenzung beenden, oder Sie werden an der Brandmauer zerschellen.“ Die FDP habe es bereits erwischt, als nächste sei die CDU an der Reihe. „Und ich sage Ihnen eines: Es wird unvermeidlich sein.“
Dass die AfD in ihrer eigenen, sich selbst unentwegt hochschaukelnden Blase lebt, liegt längst offen zutage. Radikale Scheinries:innen stilisieren sich zu Retter:innen eines Systems, das sie verachten und abschaffen wollen. Im Landtag halten Grüne, Schwarze, SPD und FDP gemeinsam dagegen. Zum 13. Mal sind am vergangenen Donnerstag ihre beiden Kandidaten bei der Wahl zu stellvertretenden Mitgliedern im Kuratorium der Landeszentrale für politische Bildung (LpB) gescheitert – eine Einrichtung, der die AfD, wenn sie nur könnte, den Geldhahn weitestgehend zudrehen würde. Von „Größenwahn und Anmaßung“ spricht Daniel Lede Abal, der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen.
Nur zwei Plenartage reichen aus, um einmal mehr ein Bild davon zu zeichnen, wie es zuginge im Südwesten, hätten die Rechtsnationalist:innen tatsächlich das Sagen. Zum Beispiel würden Olympische Spiele ins Land geholt, natürlich ohne jede Finanzierungsvorstellung mit Ausnahme des Hinweises, dass Baden-Württemberg Zahlmeister der Nation sei. Stattdessen mit sehr konkreten Vorstellungen, wie 2040 oder 2044 der „olympische Funke“, so MdL Hans-Peter Hörner, überspringt. Der pensionierte Berufsschullehrer aus Hechingen malt dem Hohen Haus schon mal seine „Begeisterung“ aus, „wenn hier in Stuttgart ein AfD-Ministerpräsident die Paralympischen Spiele oder die Olympischen Spiele im Beisein der Kanzlerin der Herzen eröffnet“ – gemeint ist ohne Zweifel Alice Weidel. Bei einem Tagesordnungspunkt zum Thema Bürgerbeteiligung weiß Rüdiger Klos (Wahlkreis Tuttlingen-Donaueschingen), der schon seit 2016 dem Landtag angehört, dass die grüne Agenda, „wahnhaft“ nach Bürger:innenräten zu rufen, nur dazu dient, undurchsichtige Parallelstrukturen aufzubauen, die die demokratische Willensbildung „zunächst untergraben und dann delegitimieren“.
In Kommunen bröckelt die Brandmauer
Absurditäten, Unterstellungen, falsche Freund:innen: In einer Debatte über Hochschulen labt sich Alfred Bamberger (Pforzheim) an der Trump-Administration, „die dem sogenannten Wokismus den Kampf angesagt hat, und damit unter anderem jener moralischen Überheblichkeit, aus der die grüne Partei vierzig Jahre lang ihren süßen Nektar zog“. Beim Thema Automobilindustrie brilliert noch einmal Klos mit dem Hinweis, wie ihr geschadet werde „mit der Falschbehauptung eines allein durch den Menschen gemachten Klimawandels“. Und Klauß läuft noch einmal zur Hochform auf beim Tagesordnungspunkt Fachkräftemangel im ÖPNV und wie demselben auch dank Fahrer:innen ohne deutschen Wurzeln abgeholfen werden könnte. Mit der Vokabel „Messer-Fachkräfte“ wird gegen sie gehetzt.
Eine Rüge des Parlamentsvizepräsidenten Daniel Born (SPD) ist die Folge. Die ist dringend geboten. Allerdings bietet nahezu jede AfD-Rede einen oder mehrere Anlässe für Rügen oder zumindest Ermahnungen. Rituale haben sich abgenutzt, ebenso die hehre Absicht der etablierten Parteien, radikale Positionen inhaltlich zu entlarven – schon allein deshalb, weil in vielen Debatten gar keine Zeit bleibt, sich im Detail mit den kruden Thesen auseinanderzusetzen. Und alle Abgeordneten, die das tun, laufen zudem Gefahr, die Rechtsaußen-Standpunkte auf diese Weise aufzuwerten.
Gerade erst haben Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag Vorgaben zum Umgang mit der AfD formuliert. „Die demokratischen Parteien der politischen Mitte tragen eine besondere Verantwortung für den Schutz und die Stärkung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, heißt es auf Seite 141. Und weiter: „Die Koalitionspartner schließen auf allen politischen Ebenen jede Zusammenarbeit mit verfassungsfeindlichen, demokratiefeindlichen und rechtsextremen Parteien aus.“ Dies betreffe im Parlament unter anderem „gemeinsame Anträge, Wahlabsprachen oder sonstige Formen der Zusammenarbeit“.
So weit die Theorie. In der Praxis hat die Brandmauer auf kommunaler Ebene bereits Risse. Im März 2024 beispielsweise stimmte im Dresdner Stadtrat die CDU einem Antrag der AfD zu und verhalf ihr damit zur knappen Mehrheit, um Bezahlkarten für Asylbewerber:innen einzuführen. CDU-Chef Friedrich Merz kritisierte das Verhalten seiner Partei: Die Entscheidung sei zwar „in der Sache richtig“, im Verfahren aber inakzeptabel gewesen. Bereits mehrfach hat er sich zuvor gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD auf jeglicher politischen Ebene ausgesprochen. Doch dann akzeptierte Ende Januar er selbst im Bundestag eine Mehrheit mit der rechtsnationalen Partei, um seinen Fünf-Punkte-Plan für eine verschärfte Migrationspolitik durchzubringen.
Im Stuttgarter Gemeinderat schafft die AfD es nicht, sich mit ihren Anträgen durchzusetzen. Das liegt weniger an der konservativen Partei als an der ökosozialen Mehrheit. Es ist keine Seltenheit, dass CDU- und AfD-Stadträt:innen im Rat und in Ausschüssen bei Abstimmungen zusammen die Hände heben. Im Juli 2023, nachdem Merz auf Twitter sich gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD auf kommunaler Ebene ausgesprochen hatte, bedauerte dies der Stuttgarter CDU-Fraktionschef Alexander Kotz ausdrücklich. Sollte „eine vernünftige Idee der AfD“ die Stadt voranbringen, werde seine Fraktion dem zustimmen.
Mit Vernunft oder gar Anstand ist es bei der AfD-Gemeinderatsfraktion aber nicht weit her. Erst vergangene Woche führte sie im Gemeinderat ein „Kasperletheater“ auf, wie es Hannes Rockenbauch (SÖS) nannte. Es ging um die Neubesetzung in städtischen Aufsichtsräten, nachdem Luigi Pantisano (Linke) und Simone Fischer (Grüne) in den Bundestag gewählt worden sind und deshalb aus dem Gemeinderat ausschieden. Dass Vertreter:innen der Linken, der Grünen und der SPD ihre Mehrheit nutzen, um AfD-Stadträte in den Aufsichtsräten zu verhindern, nennt AfD-Stadtrat Michael Mayer „mindestens faschistoid“ und spricht von einem „Ansatz zu totalitärem Denken“. Kotz stört sich an solchen diffamierenden Äußerungen nicht, erklärt vielmehr, er wolle gerne mit Vertretern der AfD in Aufsichtsräten diskutieren.
Und als es in einem folgenden Tagesordnungspunkt um den Bau von neuen Flüchtlingsunterkünften geht – schließlich ist die Unterbringung von Geflüchteten kommunale Pflichtaufgabe und rund 2.300 sind derzeit in Notunterkünften einquartiert –, lässt es sich AfD-Stadtrat Thomas Rosspacher nicht nehmen, wieder gegen die Schwächsten zu wettern. Er spricht von „Bauvorhaben für Einwanderer“, die „angeben, auf der Flucht zu sein“. Und er tobt: „Ausreisepflichtige müssen ausreisen!“ Die Verwaltung solle geltendes Recht umsetzen und zuerst an „ihre eigenen Bürger“ denken. Am Ende stimmt der Gemeinderat mit knapper Mehrheit für den Bau der neuen Unterkünfte. AfD und CDU stimmen geschlossen dagegen. So weit klafft die Lücke zwischen Theorie und Praxis.
Und Jens Spahn liebäugelt mit der AfD
Im Europaparlament ist die Umsetzung der Brandmauer ebenfalls kompliziert. Sie sei gängige Praxis, beteuert zwar Daniel Caspary, der Chef der Gruppe der CDU/CSU-Abgeordneten und baden-württembergischer CDU-Landesvize. Er könne aber „trotzdem nicht ausschließen, dass mal die eine oder andere Seite im EP eine Zufallsmehrheit bekommt, weil Extremisten und Populisten eben auch an Abstimmungen teilnehmen“. Jens Spahn hat am vergangenen Wochenende noch einen ganz anderen Topf aufgemacht und in der „Bild“-Zeitung – wo auch sonst – empfohlen, zentrale bisherige Regeln im Umgang mit der AfD über Bord zu werfen und mit der Partei so umzugehen, wie mit jeder anderen Oppositionspartei. Der seit 2016 durchgehaltene Schulterschluss von Grünen, CDU, SPD und FDP im baden-württembergischen Landtag wäre damit Geschichte. Spahn verlangt nach einer „richtigen Balance“ und will doch nichts anderes als die funktionierende richtige Balance zerstören.
In Zukunft werden sich alle demokratischen Parteien „auf allen Ebenen“, wie Union und SPD so schön geschrieben haben, ernsthaft Gedanken machen müssen, um Sperrminoritäten wie in Thüringen zu verhindern. In Erfurt blockiert die AfD die Besetzung von Ausschüssen für die Richter- und Staatsanwaltschaftswahlen, um mit Jörg Prophet einen der ihren als Vizepräsidenten durchzusetzen. Der verbreitet gern Nazi-Mythen, eine Verwechslung ist leider ausgeschlossen. Denn seine Verfehlungen sind umfangreich dokumentiert und damit auch, dass es nicht um einen anderen organisatorischen Umgang geht, sondern darum, sich gegen die Zersetzung der Demokratie zu wehren.
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