Politik: Radikalenerlass 2.0?
Brandenburg und Sachsen überprüfen Beamtinnen und Beamte wieder auf ihre Treue zum Grundgesetz. Die Deutungshoheit hat dabei der Verfassungsschutz. Auch für Baden-Württemberg liegt ein solcher Vorstoß vor. Das weckt ungute Erinnerungen.
Von Martin Hornung
Nach Veröffentlichung im Brandenburger Amtsblatt kann der Radikalenerlass ab September nach über 52 Jahren wieder fröhliche Urständ feiern – und dies in verschärfter Form als Gesetz. Die SPD/CDU/Grüne-Koalitionsmehrheit in Brandenburg hat die großen Demonstrationen gegen rechts in diesem Frühjahr für ihre Zwecke genutzt: Nach fünf Jahren Anlauf ließ sie, passend zum bevorstehenden 75. Jahrestag des Grundgesetzes am 22. Mai, am 26. April 2024 einen sogenannten „Verfassungstreue-Check“ für Beamtinnen und Beamte endgültig verabschieden.
Zuvor hatte die Koalition von CDU/Grüne/SPD in Sachsen am 20. März ein „Gesetz zur Verfassungstreue“ durch den Landtag gebracht. Dort erfolgt jetzt bei Einstellungen in den Polizei- und Justizvollzugsdienst eine Prüfung per „Regelabfrage beim Verfassungsschutz“, ob die Betreffenden „auf dem Boden der Verfassung stehen“.
Bei früheren von Radikalenerlass und Berufsverbot Betroffenen weckt das Erinnerungen. In Baden-Württemberg hatte die Landesregierung am 2. Oktober 1973 den „Schiess-Erlass“ in Kraft gesetzt. Unter Innenminister Karl Schiess (CDU) entschied sich der Südwesten für eine besonders scharfe Umsetzungs-Variante des im Jahr zuvor auf Bundesebene ergangenen Radikalenerlasses. Und nun ließ sich in „the Länd“ der Vizechef der Grünen-Landtagsfraktion, Oliver Hildenbrand, am 7. April 2024 von der „Stuttgarter Zeitung“ folgendermaßen zitieren: „Vor der Einstellung … soll künftig ein ‚verdachtsunabhängiges Prüfverfahren‘ zum Einsatz kommen – die Regelanfrage beim Verfassungsschutz. Als ‚zusätzlicher Baustein‘ im Auswahlverfahren tauge der ‚Verfassungstreuecheck‘.“ Dabei sprach er von „Einstellungen in den Polizeidienst“ und „Rechtsextremismus“. Die Reaktion des Sprechers des CDU-geführten Innenministeriums fiel reserviert aus: „Eine Regelanfrage sei nicht geplant. Thomas Strobl gehe streng gegen Rechtsextremismus vor.“
Auch der Kommentator der Zeitung sah sich bei Hildenbrands Vorstoß an den Radikalenerlass erinnert. Alle, die sich für den Öffentlichen Dienst bewarben, wurden bis in die 1980er-Jahre einer Regelanfrage beim Inlandsgeheimdienst, genannt Verfassungsschutz, unterworfen. Bundesweit wurden damals offiziell über 1.500 Linke nicht eingestellt oder entlassen – weit mehr als Rechte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat 1995 in einem Urteil festgestellt, dass damit rechtswidrig Grundrechte missachtet wurden. Auch die UN-Sonderorganisation ILO (International Labour Organization – Internationale Arbeitsorganisation) hatte die Berufsverbote 1986 als Verstoß gegen Grundnormen des internationalen Arbeitsrechts bewertet.
Ehemals Betroffene bis heute nicht entschädigt
Die Betroffenen kämpfen bis heute um Rehabilitierung und Entschädigung. Aus Sicht der in den 1970er- und 1980er-Jahren Betroffenen erhält das, was derzeit in Brandenburg läuft, eine besondere Note. Der Potsdamer Innenminister Michael Stübgen (CDU) ist 2024 gleichzeitig Vorsitzender der Innenministerkonferenz. Die empfahl 2019 den Ländern, Maßnahmen gegen den zunehmenden Rechtsextremismus vorzunehmen. Stübgen brachte darauf 2022 den Entwurf seines „Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes des Berufsbeamtentums in Brandenburg vor Verfassungsgegnern“ im Landtag ein. Kern: Regelanfrage beim Verfassungsschutz bei Einstellungen von Beamtinnen und Beamten, betreffend ihrer „Verfassungstreue“. Im März 2024 wurde der Entwurf kurzfristig durch Verschärfungen im Landes-Disziplinarrecht erweitert.
Ein größerer Teil war erst Tage zuvor ausgegeben und das Paket am 24. April nochmals in den Hauptausschuss überwiesen worden. Auch dort wurden Änderungsanträge von Seiten der Fraktion Die Linke alle kurzerhand abgeschmettert. Nachgeschoben wurde lediglich ein Zusatzantrag der Koalition: Um „Probleme bei der Rechtsanwendung“ zu vermeiden, wird der Innenminister „aufgefordert, ein Rundschreiben mit Anwendungshinweisen für die Dienstherren“ zu erlassen, zum Beispiel, was die „Berücksichtigung der Unschuldsvermutung“ und „Fürsorgepflicht“ oder die „Prüfung eines Rehabilitierungsprogramms“ angeht. Das besagte Rundschreiben muss allerdings erst noch verfasst werden.
Am 26. April folgte dann die dritte Lesung und Endabstimmung. Das Gesetz wurde in namentlicher Abstimmung mit 42 zu 24 Stimmen verabschiedet (22 Abgeordnete fehlten).
Scharfe Kritik von Gewerkschaften
Die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verbände wie DGB, Beamtenbund, Richterbund, Städtetag hatten zur nachgeschobenen Verschärfung der Disziplinarordnung zuvor nur noch schriftlich Stellung nehmen dürfen. Am Tag vor der Landtagssitzung platzte den Gewerkschaften der Kragen. In einer gemeinsamen Stellungnahme teilten DGB, GEW, Verdi, die Gewerkschaft der Polizei (GdP) und der Deutsche Beamtenbund (DBB) am 23. April mit: „Die Gewerkschaften im DGB sowie DBB kritisieren scharf die Art und Weise des Einbringens dieser erheblichen Änderungen im Disziplinarrecht im sogenannten Omnibusverfahren (Huckepackgesetz). Mit der Zurückstufung bzw. Entfernung aus dem Beamtenverhältnis per Disziplinarverfügung wird der Schutz der Unabhängigkeit der Beamtinnen und Beamten vor politisch geprägten Einflussnahmen auf ihr Handeln geschwächt. Eine Änderung des Disziplinarrechts sollte einem demokratisch geführten Verfahren unter Einbeziehung von Verwaltung und Gewerkschaften vorbehalten bleiben.“ Die Vorsitzende des DGB Berlin-Brandenburg sagte der Presse am 24. April: So „verkommt parlamentarische Partizipation zum Feigenblatt“.
Laut der Linken-Fraktion im Brandenburger Landtag würden jetzt „Beamte schlechter gestellt als ‚normale‘ Angestellte im Kündigungsverfahren“. Der Rechtsweg werde beschränkt, da bei Entscheidungen der obersten Dienstbehörde ein Widerspruchsverfahren nicht stattfinde. Auch die Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts ist nur möglich, wenn sie vom Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird. Das „gesamte Prozessrisiko“ sei somit „auf die Betroffenen verlagert“. Und durch die Abschaffung des Richtervorbehalts würden laut Linke „bei Disziplinarverfahren Dienstherren, auch mögliche AfD-Landräte und -Bürgermeister, ermächtigt, Menschen direkt zu entlassen“.
Innenminister Stübgen hofft möglicherweise, Vorreiter für alle Bundesländer zu werden. Sein Text ist im Wortlaut weitgehend von den Erlassen der 1970er-Jahre abgeschrieben. Trotzdem behauptet er, die neue Regelung habe mit dem Radikalenerlass „nichts zu tun“. Vielmehr gehe es um ein Gesetz, was „bundesweit bisher einmalig“ sei. Auch die BVB/Freie Wähler-Gruppe stimmte dafür – weil nun die Tür offen sei, dieses auch auf den gesamten Öffentlichen Dienst auszuweiten (was geltendem Arbeitsrecht für Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Angestellte völlig widersprechen würde).
Zur Ankündigung der AfD, das Gesetz durch Klage vor dem Landesverfassungsgericht überprüfen zu lassen, kommentierte Stübgen: Er begrüße dies ebenfalls, dadurch werde Klarheit geschaffen. Auch für eine solche mögliche „Arbeitsteilung“ gibt es ein historisches Vorbild: Ein am 22. Mai 1975 ergangener Grundsatzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts, federführend verfasst von dem als früherer Nazijurist kompromittierten Dr. Willi Geiger, diente danach als Rechtfertigung und Vorlage für eine Ausweitung der Berufsverbote.
Der Check zielt wieder auf links
Es bleibt die Frage, gegen wen sich das alles tatsächlich richten soll. Die offizielle Sprachregelung: „Gegen Extremisten jeglicher Couleur“ und „Verfassungsfeinde“. Stübgen, Strobl und Co. lassen dabei bekanntlich keine Gelegenheit aus, davor zu warnen, sich „nur auf ‚Rechtsextremisten‘ zu konzentrieren“ und den „Linksextremismus zu unterschätzen“. Solche Fälle wie die der Berliner Richterin und früheren AfD-Bundestagsabgeordneten Birgit Malsack-Winkemann (nach Anti-Terror-Razzia gegen Reichsbürger mittlerweile inhaftiert) oder des ehemaligen Freiburger Staatsanwalts und Bundestagsabgeordneten Thomas Seitz, im März aus der AfD ausgetreten, werden womöglich die Ausnahme bleiben.
Betroffene des früheren Radikalenerlasses verweisen auch auf die Praxis der 1970er- und 1980er-Jahre: Er sei zu über 95 Prozent gegen Linke angewandt worden. Heute seien Proteste gegen Aufrüstung und Kriege, Klimakatastrophe, Abbau von Meinungsfreiheit sowie sozialen Rechten und Leistungen schnell mit dem Stempel „verfassungsfeindlich“ und „gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet“ versehen.
Die Website berufsverbote.de stellt fest: „Niemand sollte sich von anlassbezogener Rhetorik täuschen lassen: Der Feind steht … für die Herrschenden und ihren Inlandsgeheimdienst immer links. Hier wird wieder ein Instrumentarium geschmiedet, das sich – wie damals – um Grundnormen des Arbeitsrechts einen Dreck schert, alle Aufarbeitungen und internationalen Verurteilungen und Abmahnungen ignoriert, und schneller, als wir schauen können, sich gegen ganz andere richten wird als die, gegen die heute die Menschen auf die Straße gehen.“
Berufsverbote gegen den Lehrer Michael Csaszkóczy in Heidelberg (2004 bis 2007) und den Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger in München (2015) mussten noch zurückgenommen werden. Mittlerweile gibt es jedoch erneute Fälle gegen Linke: Aktuell wird dem Lehrer Luca S. in Hessen und dem Wissenschaftler Benjamin R. in Bayern die Einstellung verweigert. Auch beim „Verfassungstreue-Check“ behält der spätestens durch den NSU-Skandal kompromittierte „Verfassungsschutz“ weiter die Deutungshoheit.
Martin Hornung ist in der „Initiativgruppe gegen Radikalenerlass und Berufsverbote Baden-Württemberg“ aktiv.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen