Polen während des Holocausts: Goldrausch in Treblinka
Er löste Polens bisher größte historische Debatte aus. Mit seinem neuen Buch sorgt Jan T. Gross erneut für heftigen Streit: Polen sollen sich am Holocaust bereichert haben.
WARSCHAU taz | Es ist ein Foto, das dem polnischamerikanischen Historiker und Soziologen Jan Tomasz Gross keine Ruhe lässt: Im ehemaligen deutschen Vernichtungslager Treblinka bei Warschau stellen sich Bäuerinnen und Bauern zu einem Gruppenbild auf. Manche stützen sich auf Spaten. Müde, wie nach einem sehr langen Arbeitstag, sehen sie in die Kamera.
Es sind die "Goldgräber" von Treblinka, die nach dem Verlassen der letzten Nazis die Erde und Asche des Todeslagers umgraben, um die letzten Wertgegenstände der ermordeten Juden zu finden. Nun hat Gross einen langen Essay zu dem Bild verfasst. Schon vor seiner geplanten Veröffentlichung Anfang März sorgt er in Polen für Empörung. Denn Gross wirft den Polen vor, vom Holocaust profitiert und sich schamlos am Eigentum der Juden bereichert zu haben.
Zwar berichteten schon andere Publizisten vor Gross über die "Goldgräberstimmung" Ende des Zweiten Weltkrieges, die hunderte von Polen in die von den Nazis verlassenen Konzentrationslager trieb, um dort nach den letzten "Kostbarkeiten" der Juden zu suchen. Beschrieben wurde auch bereits, dass die Wohnungen, Häuser und Fabriken, die einst polnischen Juden gehörten, während und nach dem Krieg von zumeist katholischen Polen übernommen wurden. Dass die Gestapo, die SS, oder die Beamten des Nazi-Okkupationsregimes oft eine Gegenleistung für das ehemals jüdische Eigentum forderten, tauchte allerdings meist nur in einem Nebensatz auf.
Diese Texte kamen ohne moralischen Vorwurf aus. Sie waren sachlich, wissenschaftlich und ausgewogen. So blieb die Auseinandersetzung mit der "Goldenen Ernte", wie Gross die Raubzüge und Plünderungen höchst sarkastisch nennt, bis heute aus.
Schon zweimal entlarvte Gross in den letzten Jahren einige Geschichtsmythen Polens als Legenden, die mit der Realität nicht allzu viel zu tun haben.
Sein schmales Buch "Die Nachbarn" löste 2001 die größte historische Debatte aus, die Polen jemals geführt haben. In der nordostpolnischen Kleinstadt Jedwabne hatten 1941, direkt nach dem Abzug der sowjetischen Besatzer, katholische Polen ihre jüdischen Nachbarn ermordet. "Entweder ihr macht das oder wir", hatte zuvor ein Deutscher in SS-Uniform erklärt. In ein paar Tagen sei man wieder da. Tatsächlich trieben die polnischen Einwohner die jüdischen Nachbarn in eine Holzscheune, verbrannten sie und teilten das Eigentum der Opfer unter sich auf. Die offizielle Version, die auch auf einem Gedenkstein verewigt war, sprach davon, dass 1.600 Juden einem Nazimassaker zum Opfer gefallen wären. Erst Jahrzehnte später kam durch Jan T. Gross die Wahrheit ans Licht. Insgesamt gab es in der Gegend etwa dreißig Pogrome.
2006 löste das Buch "Die Angst" von Gross erneut eine heftige Debatte aus. Denn auch bei dem Pogrom von Kielce direkt nach dem Krieg ging es letztendlich um das Eigentum der Juden. Als die Überlebenden des Holocaust in ihre Heimatstadt zurückkehrten, fanden sie ihre Wohnungen besetzt vor. Sie wurden in das Haus an der Plantystraße 7 einquartiert. Als dann ein kleiner Junge zu Hause erzählte, dass ihn Juden im Keller dieses Hauses festgehalten hätten, um Matzenbrot aus ihm zu backen, stürmten die Kielcer los und ermordeten 42 ihrer früheren jüdischen Nachbarn.
Dabei sieht Gross die Polen durchaus in erster Linie als Opfer der deutschen und sowjetischen Besetzung. Er erkennt auch die Rettung vieler Juden durch katholische Polen an. "Aber", sagt Gross, "dem berühmten Satz Professor Bartoszewskis, dass zehn Polen nötig waren, um einen Juden zu retten, würde ich einen zweiten hinzufügen: Die Ermordung eines Juden war nicht möglich ohne die Mithilfe vieler Personen." Gross lässt keinen Zweifel daran, dass die Haupttäter die Nazideutschen waren und es ohne sie die Schoah nicht gegeben hätte. Dennoch dürfe man nicht die Augen davor verschließen, dass es Mittäter und Nutznießer des Massenmords an den Juden gegeben habe.
Die Bevölkerung rund um die KZs habe sowohl mit dem Wachpersonal gehandelt als auch mit den Häftlingen. Alkohol, Zigaretten, sexuelle Dienstleistungen für die Wachmänner, warme Kleidung, Essen, Post und Waffen für die Häftlinge usw. Nach der Liquidierung der Lager und dem Abzug der Deutschen hätten sich viele regelrechte Claims abgesteckt und in Asche, Schlamm und Leichenresten nach Ringen, Goldklümpchen und anderen wertvollen Dingen gesucht. Das Wort "Grabschändung" schien kaum jemandem in den Sinn gekommen zu sein.
Piotr Cywinski, Direktor der Gedenkstätte Auschwitz, bestätigt den Handel der Bauern mit den Wachleuten und der Küche des KZs. "Dennoch würde ich sie nicht pauschal der Barbarei anklagen", so Cywinski. "Sonst müsste man auch sagen, dass Krakau von der deutschen Besatzung und der in der Stadt stationierten Wehrmacht profitiert habe."
Kurz vor dem Überfall Polens durch die Deutschen hatte selbst die katholische Kirche Polens den Boykott jüdischer Läden befürwortet. "Die Juden" wurden im Vorkriegspolen als unliebsame Konkurrenz wahrgenommen. Aus den Berufsvereinigungen und Handwerkskammern wurden Juden ausgeschlossen. Als die deutschen Besatzer 1940 die Arisierung des jüdischen Eigentums anordneten, stiegen Polen zunächst zu Verwaltern der jüdischen Wohnungen, Häuser, Läden, Werkstätten, Restaurants, Hotels und Fabriken auf, schließlich zu deren neuen Besitzern. Es gab viel zu verteilen: das Eigentum von 3,5 Millionen polnischen Juden.
Gross erwähnt auch, dass die Retter der Juden sich ihre Hilfe oftmals teuer bezahlen ließen. Hatten die Juden dann kein Geld mehr, konnten sie verraten werden. Auch für die Auslieferung an die Deutschen gab es einen Lohn.
Viele Polen wollen diese Tatsachen, die durch Zeugenaussagen und Dokumente vielfach belegt sind, nicht wahrhaben. Insbesondere Politiker der rechtsnationalen Kaczynski-Partei Recht und Gerechtigkeit beschwören immer wieder den Helden-und Opfer-Mythos der Polen. Ihre Anhänger drohen nun dem Verlag Znak in Krakau mit Boykott und Cyberkrieg, sollte das Buch tatsächlich erscheinen.
Zum Erstaunen vieler liberaler Geister in Polen bekannte nun aber auch der Geschichtsprofessor und Präsidentenberater Tomasz Nalecz, dass er sich "für diejenigen Polen, die die Erde in den früheren Vernichtungslagern Belzec oder Treblinka umgegraben hätten", nicht schäme. Schließlich gebe es überall Hyänen. Die polnische Gesellschaft als Ganzes hingegen, so Nalecz, habe "das Examen Zweiter Weltkrieg ganz hervorragend bestanden".
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