Point 'n' Click: Buch zum Bildschirm gemacht
■ Eine CD-ROM dokumentiert multimedial den Widerstand der „Weißen Rose“
Diese CD-ROM würde ich wirklich gern gut finden. Schließlich hat sich die Münchner Software-Firma systhema, eine Tochter des Rowohlt-Verlages, ein gewichtiges Thema vorgenommen: Die „Weiße Rose“, die Widerstandsgruppe Münchner Studenten, die 1942 gegen Hitler zu arbeiten begannen und dafür verhaftet und hingerichtet wurden. So ein Thema als „multimediale Dokumentation“, wie der Untertitel der Produktion zu präsentieren verspricht, ist eine spannende Sache. Denn anders als bei Medien wie Film oder Fernsehen, die im Laufe ihrer historischen Entwicklung ihre eigene „Sprache“ gefunden haben, ist bei interaktiven Multimedia-Anwendungen noch alles offen. Hier gibt es keine Regeln, keine Konventionen, keinen Kanon, nur ein paar praktische Erfahrungen mit dem jungen Medium.
Die Konventionen des Kinos werden den Studenten jeder Filmschule eingebleut: In einem Spielfilm wird eine neue Szene am besten mit einer Totalen eingeleitet, auf den Kameraschuß folgt beim normalen Spielfilm der Gegenschuß so sicher wie das Amen in der Kirche und so weiter. Genauso ehern sind die Regeln beim Fernsehen: Ansager und Moderatoren zeigt man dort meist aus einer halbnahen Einstellung, Nachrichten werden nicht mit Musik unterlegt, etc.
Bei interaktiven Multimedia- Anwendungen gibt es einen solchen Formenkanon noch nicht. In einem Interview mit der amerikanischen Zeitschrift Wired hat der Drehbuchautor und Computerspielentwickler Mike Backes kürzlich gesagt: „Bei interaktiven Spielen hat es bisher noch keinen Sergej Eisenstein gegeben. Diese ganze Industrie steht im Augenblick so da, als wäre gerade die Druckpresse erfunden worden, und jetzt fragen alle: Wo bleibt denn Thomas Pynchon? Die Entwicklung dieses Mediums wird Zeit brauchen.“ Solange die interaktiven Eisensteins noch auf sich warten lassen, muß man auf jede neue Multimediaproduktion, in die eine gewisse Menge Geld und Gehirnschmalz investiert wurde, einen Blick werfen. Schließlich könnte jede eine neue Idee, ein neues Element für die sich entwickelnde Sprache interaktiver Medien bieten. Die „Weiße Rose“-CD-ROM gehört – um zur Sache zu kommen – leider nicht dazu.
„Wer Bücher liest, dem wird der Umgang mit dieser CD-ROM leichtfallen“, heißt es in der Gebrauchsanweisung. Da fangen die Probleme schon an: Wenn der liebe Gott gewollt hätte, daß man Bücher auf dem Computerbildschirm liest, hätte er die 20-Zoll- Monitore nicht so teuer gemacht. Das Material über die „Weiße Rose“ besteht im wesentlichen aus drei Büchern zum Thema – zwei von ihnen praktischerweise aus dem Rowohlt-Verlag (was wohl die Produktionskosten niedrig gehalten hat).
Die Gebrauchsanweisung hat sogar recht: Tatsächlich kann man sich auch ohne großes Computer-Know-how durch die verschiedenen Dokumente manövrieren. Die Befehlszeile ist intuitiv benutzbar, und das kleine Notizbuch, das man sich auf den Bildschirm klicken kann, ist sogar eine wirklich gute Idee. Der Denkfehler bei „Die Weiße Rose“ ist einfach, daß man ein altes Medium (Buch) recht umstandslos auf das neue Medium (CD-ROM) übertragen hat.
Bücher auf CD-ROM – das wurde in den frühen Tagen von Multimedia immer wieder versucht und ist immer erfolglos gewesen. Es ist ungefähr so, als würde man einen Roman verfilmen, indem man einen Schauspieler aufnimmt, während er aus dem Buch vorliest. Zwar hat man sich mit der visuellen Aufarbeitung des Materials bei dieser Produktion Mühe gegeben (es gibt Fotos, große Grafiken, Karten), aber das ändert nichts daran, daß der Text auf einem normalen Monitor in einer Schrift erscheint, die etwa so groß ist wie die taz-Schrift auf dieser Seite.
So sieht Multimedia nach der Gutenberg-Galaxis aus: Wer eine Einführung zum Thema „Weiße Rose“ will, liest besser die wesentlich billigere rororo-Monographie, die auf dieser CD-ROM ebenfalls vorliegt. Dabei hat Ulrich Chaussy, der die CD-ROM zusammengestellt hat, schon versucht, die medialen Möglichkeiten der CD-ROM auszuschöpfen. So kann man Interviews mit Angehörigen der „Weiße Rose“- Mitglieder abrufen. Außerdem hat er die Tage- und Liederbücher von „Weiße Rose“-Mitglied Willi Graf digitalisiert dazugepackt. Sie lagen bislang im Archiv der Weiße-Rose-Stiftung in München und sind durch diese CD- ROM nun quasi als Faksimile veröffentlicht worden. Das ist ein echter Mehrwert dieser Produktion, auch wenn der Rezensent die Tagebuchlektüre auf dem Bildschirm nach einer halben Stunde mit tränenden Augen abbrechen mußte. Immer wieder wünscht man sich, man könnte die Texte einfach ausdrucken, um sie auf Papier zu lesen, aber das geht hier nicht – wohl um Probleme wegen Verletzung des Urheberrechts zu vermeiden.
Besonders verfehlt ist die Idee, auch ein „Hörbild“ über die „Weiße Rose“ von Herausgeber Ulrich Chaussy auf die CD zu pressen. Ich weiß nicht, ob der Autor ernsthaft erwartet, daß sein Publikum eine Stunde vor dem Rechner sitzenbleibt, um sich ein Hörspiel anzuhören, während auf dem Bildschirm das Drehbuch mitläuft. Mir ist jedenfalls nach zehn Minuten die Lust vergangen. Und meine Aufmerksamkeitsspanne ist bestimmt länger als die von GymnasiastInnen, die man ja zum Beispiel im Geschichtsunterricht mit so einer CD-ROM konfrontieren könnte.
Dabei ist es durchaus möglich, auch komplexere Themen auf CD-ROM zu behandeln. Das haben zum Beispiel die Multimedia- Version von Stephen Hawkings „Eine kurze Geschichte der Zeit“ oder die „Geschichte der Arbeiterbewegung“, die bei dem amerikanischen systhema-Partner Voyager erschienen ist, gezeigt. Man muß sich bloß der genuinen Möglichkeiten des Mediums bedienen, was bei „Die Weiße Rose“ leider nicht geschehen ist. Schade, ich hätte diese CD-ROM wirklich gern gut gefunden. Tilman Baumgärtel
Ulrich Chaussy (Hrsg.): „Die Weiße Rose – eine multimediale Dokumentation deutschen Widerstandes“. systhema, München 1995, CD-ROM (ab Windows 3.1), 98 DM
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