: Plus-Minus-Null-Geschäft Gesundheit
■ Betriebliche Gesundheitsförderung ist freiwillig – und deshalb selten / Der Bremer Gesundheitsforscher Wolfgang Hien
Die Arbeitnehmerkammer Bremen rief und 90 Personen kamen, um über „Stand und Perspektiven der betrieblichen Gesundheitsförderung“ im Rahmen der Reihe „Arbeit und Gesundheit“ zu diskutieren. Anlass war das Gesundheitsreformgesetz, das den Krankenkassen seit Januar 2000 wieder erlaubt, Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung zu finanzieren. Doch die Resonanz darauf ist verhalten, sagt der Bremer Gesundheits- und Arbeitsforscher Dr. Wolfgang Hien. Er hat für das Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin ein Gesundheitsförderungsprogramm der Handelskette REWE evaluiert.
taz: Was genau ist „betriebliche Gesundheitsförderung“?
Dr. Wolfgang Hien: Es geht um Maßnahmen, die über den klassischen Arbeitsschutz hinausgehen und der Gesunderhaltung der Beschäftigten dienen – als „freiwillige Leistung“ in Kooperation mit Kassen und Berufsgenossenschaften. In den Betrieben sollen „Gesundheitszirkel“ aufgebaut werden, in denen Beschäftigte Belastungen zur Sprache bringen und Lösungsmöglichkeiten erarbeiten können.
Welche Vorteile haben Arbeitgeber davon?
Ich verspreche nicht, dass sich der Krankenstand senken wird – womöglich noch im selben Jahr auch die Kosten. Leider betrachten nur wenige Arbeitgeber die Wirkung von Gesundheitsförderung längerfristig. Für uns ist schon etwas gewonnen, wenn Gesundheitsförderung den Geschäftsführungprozess nicht verteuert und man zufriedenere, gesündere und letztendlich auch wohl produktivere Mitarbeiter hat. Gesundheitsförderung rechnet sich zum Beispiel auch dadurch, dass man das Personal auch nach dem 45 oder 50 Lebensjahr halten und dann auf das Erfahrungswissen langjähriger Mitarbeiter zurückgreifen kann.
Aber de facto sinkt doch die Lebensarbeitszeit und Beschäftigte müssen ihr Wissen ständig aktualisieren. Wieso lohnt es sich da, in Erfahrungswissen zu investieren?
Eine Antwort ist volkswirtschaftlich: Nehmen wir den Arbeitgeber, der in seine Beschäftigten nicht investiert, weil er meint, mit jungen, weniger qualifizierten Leuten auszukommen. O.K. Aber auch dessen Beschäftigte werden älter – und die Last ihrer Arbeitslosigkeit, auch von krankheitsbedingter Arbeitslosigkeit oder Frühverrentung, trägt die Gemeinschaft. Also steigen die Lohnnebenkosten. Das gefällt keinem Arbeitgeber. Aber auch die betriebswirtschaftliche Sicht hat Grenzen. Arbeitgeber, die meinen, mit jungen, schlecht qualifizierten Leuten hinzukommen, rechnen mit Kunden, die sich mit wenig zufrieden geben. Indikatoren weisen aber darauf hin, dass Kunden Service, Beratung und Qualität wollen.
Welches Interesse haben Beschäftigte an Gesundheitsförderung? Immerhin müssen sie gesundheitliche Probleme preisgeben.
Beschäftigte müssen geschüzt werden, ihre Daten anonym bleiben. Das ist schwierig. Ich sage ganz offen, dass ich froh über die Ausweitung des Betriebsverfassungsgesetzes bin. Dadurch haben wir in mittleren und kleinen Betrieben die Chance, Interessenvertretungsorgane aufzubauen, die auch da aufpassen sollen und müssen.
Wie bewusst gehen Betriebsräte mit Gesundheitsfragen um?
Von der gewerkschaftlichen Organisation her gibt es recht gute Leitlinien. Aber wünschenswert wäre mehr Aufklärungsarbeit.
Stoßen Sie da manchmal auf Barrieren bei gestandenen Mannsbildern, die sich als fitte Macher sehen und daher das Thema Gesundheit ungern ansprechen?
Im allgemeinen – und auch in Bremen – ist es so, dass auch in den typisch männlichen, metallarbeiterdominierten Betriebsräten ein Gesundheits-Bewusstsein gewachsen ist. Weniger ausgeprägt ist das meist bei jüngeren Belegschaftsmitgliedern. Da muss in Betrieben mehr Kommunikation stattfinden.
Wie schlagen sich geschlechtsspezifische Unterschiede nieder?
In vielen Betrieben gibt es da eine besondere Problematik. Bei REWE beispielsweise sind 70 Prozent der Belegschaft Frauen, die Betriebsräte aber zu 70 Prozent Männer. Natürlich hat der männliche Betriebsrat bei REWE mitunter Schwierigkeiten zu verstehen, wenn Frauen – beispielsweise aus den Fleischwerken, wo ganz furchtbar schwer gearbeitet wird – über Muskel-, Gelenk- und Kopfschmerzen klagen. Oft heißt es, Frauen sind wehleidiger – aber aus wissenschaftlicher Sicht ist das nicht so. Frauen nehmen ihre Belastungen nur präziser wahr.
Ganz konkret, was springt durch betriebliche Gesundheitsförderung für Beschäftige raus?
Das ist sehr verschieden. Bei REWE in Hessen und Nordrhein-Westfalen wird mittlerweile im Lager anders komissioniert. Auch werden kleine Hubgeräte angeschafft, so dass weniger Bücken und Heben erforderlich ist. Und Verpackungseinheiten – Hundefutter beispielsweise – werden seither leichter gepackt. Die Beschäftigten müssen aber auch lernen, dann nicht einfach das Doppelte zu tragen – außerdem fällt dann auch weniger runter. Zum Schluss ist das ein Plus-Minus-Null-Geschäft. Aber die Beschäftigten arbeiten gesundheitsgerechter. In Bremen hat REWE allerdings noch keine Gesundheitszirkel und ähnliches eingerichtet. Doch es wurden ergonomisch gute Kassenarbeitsstühle eingeführt.
Das Beharrungsvermögen ist also groß. Wie sieht die betriebliche Gesundheitsförderung in Bremen allgemein aus?
Man kann nicht sagen, dass sinnvolle, flächendeckende betriebliche Gesundheitsförderung stattfindet. Aber in allen Großunternehmen gibt es Ansätze – wenn auch nicht immer in unserem Sinn. Leider tun sich die Berufsgenossenschaften bisweilen sehr schwer mit ihrem Engagement.
Gibt es in Bremen etwas Beispielhaftes in dem Bereich „betriebliche Gesundheitsförderung“ – irgendwas wahnsinnig Gutes?
Etwas wahnsinnig Gutes?
Fällt Ihnen etwas ein?
In Bremen, etwas wahnsinnig Gutes? Ich muss sagen, dass der Gesundheitszustand der Beschäftigten in den klassischen Bremer Industrien nicht der Beste ist. Das ist erforscht, dass die Belastungen in den letzten Jahren sehr gewachsen sind. Stress und Angst um den Arbeitsplatz sind hinzu gekommen. Aber eine auch nur annähernd flächendeckende Antwort darauf gibt es nicht. Fragen: Eva Rhode
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