■ Plötzlich dürfen Chinas Studenten demonstrieren: gegen die Nato: Nationalistische Explosion
Die von Nato-Sprecher Walter Jertz als „intelligente Bomben“ bezeichneten Geschosse konnten die chinesische Botschaft in Belgrad zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt treffen. Das gilt für die Nato, Chinas Führung und den deutschen Kanzler. Für die Nato war eine Verständigung mit China das nächste Ziel, nachdem sich die G-7-Staaten am vergangenen Donnerstag mit Rußland im Grundsatz über eine Kosovo-Friedenslösung geeinigt hatten. Es galt, Pekings Zustimmung oder zumindest Enthaltung im Weltsicherheitsrat zu erreichen, um künftig einen Frieden im Kosovo mit Truppen unter UN-Mandat sichern zu können. Eine Enthaltung Pekings schien in greifbarer Nähe, nachdem die Regierung der anfangs scharfen Rhetorik gegen die Nato-Angriffe auf Jugoslawien in letzter Zeit mildere Töne folgen ließ. Jetzt haben die Nato-Bomben nicht nur chinesisches Botschaftspersonal getötet, sondern vorerst auch die Hoffnung auf eine Verständigung mit China.
Die Bomben auf Belgrad brachten in China den Nationalismus zur Explosion. Die Chinesen sind empört. Daß ausgerechnet die westlichen Staaten, die China immer wegen seiner Menschenrechtsverletzungen anklagen, Chinesen in einer völkerrechtlich geschützten Botschaft töten, das mit einem einfachen „Sorry!“ abtun und ansonsten unbeeindruckt weiterbomben, muß zusätzliche Wut erzeugen. Statt nur im UN-Sicherheitsrat zu protestieren, ließ Peking jetzt Studenten vor den Botschaften von Nato-Staaten demonstrieren. Chinas Polizei, die sonst Proteste im Keim erstickt, schritt auch nicht ein, als Steine flogen. Die Proteste sind keine neugewonnene Meinungsfreiheit, sondern kalkuliert. Sie sollen die Nato die Empörung der Chinesen spüren lassen und das eigene Volk von Chinas Machtlosigkeit ablenken. Denn Peking hat bisher keinen Einfluß auf die Nato.
Doch mit den Demonstrationen geht die Regierung ein Risiko ein. Zwar hat der Nationalismus in China als Ersatzideologie für den bankrotten Kommunismus schon seit einiger Zeit Konjunktur. Doch neben dem „Staatsnationalismus“ von oben gibt es auch einen in der Bevölkerung verankerten „Volksnationalismus“ von unten. Beide können sich decken und verstärken, aber auch miteinander rivalisieren. Ihr gemeinsamer Ursprung ist der 4. Mai 1919. Vor 80 Jahren demonstrierten Pekinger Studenten gegen die Westmächte, weil diese nach dem Ersten Weltkrieg im Versailler Vertrag die deutschen Kolonialgebiete in China an Japan übertrugen, statt sie dem Reich der Mitte zurückzugeben. Jetzt fühlen sich die Chinesen wieder vom Westen übergangen.
Weil Chinas KP-Führung um die potentielle Herrschaftsgefährdung durch den spontanen Volksnationalismus weiß, hat sie in der Vergangenheit nationalistische Demonstrationen, zum Beispiel gegen Japan, unterbunden. Chinas Führung muß jetzt die Nato verfluchen, daß sie ausgerechnet kurz vor dem zehnten Jahrestag der Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni die nationale Empörung anheizt. Denn ursprünglich sollten in dieser Zeit keine Kundgebungen stattfinden, aus Angst, sie könnten zu regimefeindlichen Protesten führen. Doch vor die Wahl gestellt, den explodierenden Nationalismus gewähren zu lassen oder zu riskieren, selbst zur Zielscheibe zu werden, entschied sich Chinas Führung für ersteres. Denn 1989 begriff sich auch die Studentenbewegung als Retterin der Nation.
Die Bomben auf die Botschaft kurz vor seiner morgen beginnenden China-Reise machen Bundeskanzler Schröder einen Strich durch die Rechnung. Der Kosovo-Krieg wird jetzt zum beherrschenden Thema der Reise und macht sie noch kniffliger. Ohnehin ist der Termin kurz vor dem Jahrestag des Massakers schwierig. Von vornherein setzte Schröder den Schwerpunkt auf Wirtschaftsthemen und vernachlässigte das Thema Menschenrechte, wie der Menschenrechtsbeauftragte Gerd Poppe beklagte. Jetzt bleibt es Schröders Geheimnis, wie er sich angesichts der von der Nato ermordeten Chinesen noch glaubwürdig für Menschenrechte in China stark machen will. Eher könnte seine Reise zur Sühnemission werden, nicht unähnlich der des Prinzen Chun. Der mußte im Jahr 1901 nach Berlin reisen, um sich im Namen des Kaisers für den Mord am deutschen Gesandten in Peking, Baron von Ketteler, beim Boxeraufstand zu entschuldigen. Sven Hansen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen