Plakataktion gegen Sozialabbau: Bahn übt vorauseilenden Gehorsam
Kritik unerwünscht: Der Bahnkonzern will keine Plakate der Wohnungslosenhilfe gegen die derzeitige Sozialpolitik aufhängen - um die Regierung nicht zu verärgern.
![](https://taz.de/picture/295354/14/sozialplakate_f.20101003-16.jpg)
BERLIN taz | Eine ältere Frau steht ratlos vor der Augenarztpraxis, das Portemonnaie leer, im Gesicht eine mühsam zusammengeschusterte Brille. Gesundheit, ein Luxusgut? Mit solchen und ähnlichen Plakatmotiven macht die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe seit kurzem gegen die Kürzungspolitik der Regierung mobil, die ihrer Auffassung nach vor allem die Schwächsten zu treffen droht. "Der Sozialstaat gehört allen" steht in großen Buchstaben auf den Plakaten.
Diese Botschaft ist der Deutschen Bahn offenbar zu heikel. Sie verweigerte dem Verband umgehend ihre Werbeflächen an den Bahnhöfen. Die Begründung: Die Kampagne kritisiere die Bundesregierung und damit den Eigentümer des Konzerns. So deutliche Worte an deutschen Bahnhöfen halte man daher "zumindest auch für grenzlastig": "Da momentan auf politischer Ebene nicht nur Sonnenschein herrscht, könnte eine solche Kleinigkeit durchaus zu Ärger führen", heißt es im Ablehnungsschreiben der Bahnverantwortlichen.
Der Geschäftsführer der Wohnungslosenhilfe, Thomas Specht, ist empört. Er hatte einen Werbevermarkter damit beauftragt, Großflächen für 1.000 Plakate zu buchen. Nirgends außer bei der Bahn haben die Werbeflächenbesitzer die Kampagne für anstößig gehalten: "Da wird aus vorauseilendem Gehorsam in die Meinungsfreiheit eingegriffen", protestiert Specht. Mit der gleichen Begründung könne man auch Zeitungen am Bahnhofskiosk konfiszieren.
Die Wohnungslosenhilfe macht nicht zum ersten Mal solche Erfahrungen mit der Bahn. Vor acht Jahren hatte der Verband eine Kampagne gegen die Ausweisung von Obdachlosen aus den Bahnhöfen gestartet - also direkt gegen die Politik des Konzerns. Motto: "Die Entdeckung Bahnhof - Wer nicht konsumiert, muss raus?!" Die Bahn verstand wenig Spaß und wollte die Motive nicht nur von den eigenen, sondern auch von Plakatflächen in Bahnhofsnähe verbannt sehen. Der Streit ging schließlich vor die Gerichte: Das Landgericht Kassel gab der Wohnungslosenhilfe zunächst Recht. Eine spätere Instanz entschied allerdings zugunsten der Deutschen Bahn.
Verglichen mit der damaligen Kampagne klingt die jetzige regelrecht harmlos: "Menschen in Armut und Wohnungsnot haben ein Recht auf Wohnen, Arbeit, Gesundheit" steht auf den Plakaten. Von Kritik an der Bahn ist nirgends die Rede. Umstürzlerische Agitation gegen die Regierungspolitik stellt man sich ebenfalls anders vor. Die Bahn jedoch beharrt auf ihrer Position: Um Interessenkonflikte zu vermeiden, stünden die Flächen grundsätzlich nicht für Kampagnen mit politischen und religiösen Inhalten zur Verfügung, sagt Bahnsprecher Michael Greschniok der taz.
Absurd findet Wohnungslosen-Vertreter Thomas Specht dieses Argument. Nicht nur weil auf denselben Flächen andere soziale Organisationen durchaus mit vergleichbaren Botschaften werben dürften. Sondern weil die Arbeit der Wohnungslosenhilfe und damit auch die Kampagne von der Bundesregierung selbst mit finanziert wird: Die Bahn verhindert eine regierungskritische Kampagne, für die die Regierung selbst bezahlt hat.
Rund 250.000 Euro, etwa 60 Prozent ihrer Mittel, erhält die Wohnungslosenhilfe aus einem Topf des Arbeitsministeriums für "besondere gesellschaftliche Gruppen". Öffentlichkeitsarbeit für die Belange Wohnungsloser gehört ausdrücklich mit zum Förderzweck. "Das Ministerium für Arbeit und Soziales wusste längst, dass es diese Kampagne gibt", sagt Specht. "Aber von denen hat sich noch keiner bei uns gemeldet."
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