Plácido Domingo sagt Met-Auftritt ab: Was kommt nach dem Vorwurf?
Plácido Domingo verlässt die Metropolitan Opera – wegen Vorwürfen sexueller Gewalt, die er aber bestreitet. Ist eine cancel culture die Lösung?
Nur einen Tag vor seinem „Macbeth“-Auftritt verlässt Plácido Domingo die renommierte New Yorker Metropolitan Opera. Es wäre Domingos erster US-Auftritt nach den Vorwürfen gegen ihn wegen sexueller Belästigung gewesen. 20 Frauen gaben in den vergangenen Monaten an, von dem Opernstar belästigt worden zu sein.
Doch am Dienstagabend teilte die Leitung der Oper mit: „Die Met und Herr Domingo stimmen darin überein, dass er abtreten muss.“ Zuvor hatten laut New York Times Mitarbeiter*innen die Weiterbeschäftigung des Opernsängers, auch im Hinblick auf die Garantie eines sicheren Arbeitsplatzes, kritisiert.
Die Nachrichtenagentur AP hatte Anfang August in einer umfangreichen Recherche über die Vorwürfe von mehreren Frauen berichtet. Die Auftritte des 78-Jährigen in San Francisco und Philadelphia wurden daraufhin abgesagt. Die Oper in Los Angeles, wo Domingo Generalerdirektor war, untersucht die Vorwürfe und beurlaubte ihn. Dass Domingo in nächster Zeit in den USA auftreten wird, ist unwahrscheinlich.
In Europa und Deutschland sieht es dagegen ganz anders aus: Nur wenige Wochen nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe wurde Domingo bei den Salzburger Festspielen mit Standing Ovations gefeiert. In den nächsten Monaten wird der Tenor immer wieder auf der Bühne stehen: In Zürich, Wien, Mailand oder in der Hamburger Elbphilharmonie. Ein ausverkauftes Konzert, für das Hunderte Zuschauer*innen bis zu 450 Euro gezahlt haben.
„Im Zweifel für den Angeklagten“, oder?
Die cancel culture – also das Boykottieren als Reaktion auf ein mutmaßlich missbräuchliches Verhalten einer Person – ist in den USA deutlich tiefer verankert als in Deutschland. Das zeigt sich nicht nur im Umgang mit Domingo, sondern auch bei R-’n’-B-Sänger R. Kelly. Nach den Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen wurden dessen Konzerte weltweit abgesagt. Einzig der Veranstalter in Deutschland weigerte sich, bis R. Kelly inhaftiert wurde und ihm nichts anderes übrig blieb.
Verteidiger*innen mutmaßlicher Täter*innen berufen sich in der Regel auf „Im Zweifel für den Angeklagten“. Solange es kein Gerichtsurteil gibt, sind sie unschuldig; solange sie nicht in Untersuchungshaft sind, können sie weiter auftreten. Auch R. Kelly und Domingo streiten alle Vorwürfe ab – es gilt die Unschuldsvermutung. An diesem juristischen Grundsatz möchte und sollte auch niemand etwas ändern, denn er ist unerlässlich in einem Rechtsstaat.
Wie aber dann mit Künstler*innen umgehen, denen schwerwiegender Vorwürfe gemacht werden? Es ist eine der schwierigsten Fragen, die durch die #MeToo-Debatte aufgekommen sind. Popstars weiterhin feiern, beklatschen, bezahlen und einfach ausblenden, was viele Frauen dem Star vorwerfen? Ist das fair? Und wer schützt die Betroffenen? Jahrzehntelang war das so Usus. Kein Kindesmissbrauchverdacht, keine Klage oder Vorwurf konnte berühmte Personen wie R. Kelly, Ryan Adams oder Michael Jackson schaden. Erst seit dem Aufkommen der #MeToo-Debatte im Oktober 2017 hat sich daran etwas geändert. Konzerte werden abgesagt, Filme boykottiert oder es wird vor Lesungen demonstriert. Die cancel culture als ein Akt der Wut und der Verzweiflung.
Jemanden vorzuverurteilen ist unfair. Doch in einer patriarchalen Gesellschaft, in der Frauen häufig kein Glauben geschenkt wird, auf faire Polizeiermittlungen und Gerichtsprozesse zu hoffen, ist schon fast naiv. Eine deutsche Kriminalstudie von 2017 zeigt, dass es in keinem Bereich so viele Freisprüche vor Gericht gibt wie bei Vergewaltigungen und sexueller Nötigung.
Im Sande verlaufen oder verjährt
Und auch nach #MeToo fangen erste juristische Verfahren an im Sande zu verlaufen. Gründe gibt es dafür viele, nachvollziehbare und weniger nachvollziehbare. Eine Vielzahl von Vorwürfen ist zudem verjährt. Und kommt es einmal zum Prozess, kann es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis ein Urteil endgültig gefällt wird.
Menschen und deren Werk zu canceln kann nicht die langfristige Lösung sein. Es ändert nichts an dem grundsätzlichen Problem, nämlich dass wir in einer Gesellschaft leben, die Machtmissbrauch begünstigt. Diesen Umstand zu verändern, sollte in der Debatte um sexualisierte Gewalt höchste Priorität haben. Solange das nicht der Fall ist und alle Betroffenen einen rücksichtsvollen Umgang, saubere Ermittlungen und einen fairen Gerichtsprozess garantiert haben, kann niemand erwarten, dass sie nicht aus Verzweiflung zu anderen Strategien greifen.
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