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Piraten-Chef SchlömerDer Bundes-Bernd

Bernd Schlömer repräsentiert eine Partei, die Themen statt Haltungen hat. Aber: Wie erklärt man der Öffentlichkeit eine Politik, die es noch gar nicht gibt?

Bernd Schlömer: Wer so oft seinen Kopf hinhalten muss, ist mit einem Helm gut beraten. Bild: reuters

BERLIN taz | „Ich steh‘ mitten auf der Brücke“, sagt er in sein weißes Smartphone. Bernd Schlömer blickt sich um: Wo ist denn das versprochene Kamerateam? Er ist doch nicht zu übersehen. Direkt auf der alten, steinernen Admiralbrücke in Berlin-Kreuzberg hat Schlömer seinen Roller geparkt. „Hm“, murmelt er, „hm, okay“ und legt auf. Planänderung. Die Fernsehleute möchten Bernd Schlömer doch nicht oben auf der Brücke interviewen, sondern unten am Ufer, direkt am Wasser.

Das Licht ist schöner dort an diesem Oktobertag, der sich als Spätsommer verkleidet. Schlömer könnte jetzt mürrisch werden. Stattdessen packt er einfach das Smartphone in die Jackentasche und schiebt den Roller hundert Meter den steinigen Uferweg entlang. „Dann woll‘n wa mal“, sagt er und lächelt. Sein geschlossener Mund bildet dabei einen dünnen Schlitz.

Joschka Fischer sagte einmal: „Politiker, das sind die Menschen mit den schmalen Lippen. Weil man so viel wegstecken muss, runterschlucken muss.“ Bernd Schlömer ist erst seit knapp vier Jahren bei den Piraten, aber seither muss er eine Menge wegstecken. Vor sechs Monaten wurde der 41-Jährige ihr Vorsitzender, mitten in ihrer tiefsten Krise.

Piraten-Parteitag

Am 24. und 25. November wollen sich die Piraten in Bochum ein Programm geben. Den dezimierten Vorstand soll im Mai 2013 ein Parteitag in Neumarkt in der Oberpfalz neu wählen.

Der Bundesvorstand rechnet mit rund 2.000 Teilnehmern. Jedes Mitgleid kann sich noch vor Ort anmelden und über die rund 650 Anträge abstimmen. Sie umfassen mehr als 1.400 Seiten und reichen von der Abschaffung des Beamtentums bis zur Wiedereinführung der D-Mark. (mlo)

An Schlömer zeigen sich die Probleme einer Partei, die keine Partei sein will. Die Freude über den Einzug in vier Landesparlamente ist Ernüchterung gewichen: Die neuen Fraktionen beschäftigen sich vor allem mit sich selbst. Die Umfragewerte sind von 13 Prozent auf 4 bis 5 Prozent gefallen. Der Einzug in den Bundestag im kommenden Jahr ist in Gefahr.

In dieser Lage bräuchte die Partei einen Steuermann. Einen, der beruhigt, ermutigt und koordiniert. Die Frage ist nur, ob die Piraten das auch so sehen. Und ob Bernd Schlömer der Richtige für den Job ist.

Einzelfragen dieser Art

Die Leute vom Digitalsender ZDFinfo platzieren Schlömer auf einem Holzpfahl am Ufer. Hinter ihm glitzert das Wasser des Landwehrkanals im Sonnenschein. „Die Beine schlage ich aber nicht übereinander“, sagt er zum Fragensteller neben ihm. „Sonst verlier‘ ich noch das Gleichgewicht.“

Das Interview dreht sich ums Übliche: die miesen Umfragewerte und all die Fragen, auf die die Piraten keine Antworten haben, etwa die Euro-Schuldenkrise. „Ich frag‘ Sie nach Ihrer Meinung“, sagt der Interviewer: „Finanztransaktionssteuer – ja oder nein?“

Schlömers Stimme bewahrt das Ruhige seiner emsländischen Heimat: „Ich halte mich zurück. Ich möchte mich nicht dadurch hervorheben, dass ich zu Einzelfragen dieser Art Stellung nehme.“

„Nicht zu fassen.“ - „Doch“, sagt Schlömer. Dünnes Lächeln. „Warum?“ - „Das ist einfach so.“ - „Sie sind Parteivorsitzender!“

Das Interview geht zu Ende, die Sonne steht tief hinter den Häusern. Schlömer setzt seinen rot-weißen Helm auf. Er muss weiter. Sein Arbeitstag als Parteichef hat gerade erst begonnen.

Bernd Schlömer hat einen unmöglichen Job. Die Partei hat bislang nur Schlagworte wie „Transparenz“, „Bürgerbeteiligung“, „Gesellschaftliche Teilhabe“. Was das konkret heißt, ist sechs Jahre nach ihrer Gründung noch immer unklar. Doch ihr Chef muss so tun, als folge die Partei ihrem Motto „Themen statt Köpfe“.

Schlömer hält seinen Kopf dafür hin, dass die Partei Themen hat, aber keine Haltungen. Er muss öffentlich reden, darf aber nichts sagen. Er soll das Mundstück von 34.000 Mitgliedern sein, die alle eine eigene Meinung haben. Nur ihren Funktionären gönnen sie keine. Schlömer droht ständig, das Gleichgewicht zu verlieren.

Jeder darf abstimmen

„@BuBernd“ ist das Twitter-Pseudonym des 41-Jährigen, es passt zu ihm. Der „Bundes-Bernd“ ist Bundesvorsitzender einer Partei, die Hierarchien verachtet. Die Schwarmintelligenz soll Entscheidungen fällen, die Funktionäre dann bloß verbreiten. Das aber ist das Problem: Die Piraten entscheiden langsam bis gar nicht. Auf ihrem Bundesparteitag am kommenden Wochenende in Bochum wollen sie sich endlich ein Wahlprogramm geben.

Wie das aussehen wird, wissen sie aber selbst noch nicht. Jedes Parteimitglied, das sich vor Ort anmeldet, darf abstimmen. Hunderte Anträge liegen vor, aber niemand weiß, wie viele Piraten welche Anträge unterstützen werden. Wie erklärt man der Öffentlichkeit eine Politik, die es noch gar nicht gibt? In dieser Lage ist der nüchterne Norddeutsche ein Glücksfall für die Partei.

„@BuBernd“, das steht auch für den Bundesbeamten Bernd Schlömer. Tagsüber arbeitet er als Regierungsdirektor im Verteidigungsministerium, zuständig für die Haushalte der Bundeswehr-Unis. Schlömer ist das Gegenteil eines Klischee-Piraten, seriös bis zur Unscheinbarkeit: Klosterschule in Meppen, Wehrdienst in Ostfriesland.

Ausbildung zum Diplom-Sozialwirt, später zum Diplom-Kriminologen. ASTA-Referent in Osnabrück, zwölf Jahre an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr. Um seinen Hals hängt die Zeiterfassungskarte aus dem Ministerium. Er nimmt sie den ganzen Abend nicht ab, sondern steckt sie in seine Brusttasche.

Nach dem Interview trifft Schlömer zwei „Unterstützer“ – ehrenamtliche Helfer im Gestrüpp der Parteitagsanträge und Presseanfragen. Ihr Büro an diesem Abend ist ein karges, neonhelles Café in Berlin-Mitte. Im Haus der provisorischen Parteizentrale, ein paar hundert Meter weiter, gibt es einen Wasserschaden.

Der Feierabend ist seine Arbeitszeit

Schlömer ist sein eigener Pressesprecher, das Smartphone sein Sekretariat, der Feierabend seine Arbeitszeit. Er fürchtet Ärger mit dem Ministerium und Journalisten, wenn er tagsüber Mails verschickt. Es könnte ja heißen, er vermische Ministeriums- und Parteijob. Für angestellte Mitarbeiter fehlt das Geld, viele Piraten zahlen wenig oder keine Mitgliedsbeiträge. Sie zum Zahlen zu drängen, wagt keiner.

Bei Orangensaft plant der Trupp Schlömers Termine. Am Sonntag ist er zu Gast bei „Günther Jauch“. Die Sendung hat fünf Millionen Zuschauer. Weiß er, worauf er sich einlässt? „Ich hab‘ das schon mal geguckt“, sagt Schlömer, „so nach‘m ’Tatort‘.“ Er lächelt, fast trotzig. Er will sich von der medialen Aufregung nicht anstecken lassen. Aber er lernt gerade, sich darin zu behaupten.

„Gibt‘s noch irgendwas, was Scheiße läuft außer der Sache im Spiegel?“, fragt Schlömer. Die Sache, das ist sein kalkulierter Wutausbruch gegenüber dem Politischen Geschäftsführer. Ein paar Tage zuvor hat er gegenüber Spiegel Online gesagt: „Ich würde Johannes Ponader raten, mal zu arbeiten, anstatt Modelle vorzustellen, die die Berufstätigkeit umgehen.“

Ponader hatte angekündigt, er wolle seinen Lebensunterhalt zur Not mit Spenden von Anhängern aufbessern. Die Piraten – eine Partei von Schnorrern? Der Frontalangriff sollte dem Parteichef etwas Luft verschaffen. Er will nicht auch noch für Ponaders Alleingänge den Kopf hinhalten. Es wird ihm nicht gelingen.

Vier Wochen später. Mitte November tut der Herbst, als sei er ein Winter. Schlömer stellt sich einer Diskussion mit Piraten im Berliner Stadtteil Friedrichshain. Pünktlich steht der Parteichef in der Tür zur kleinen Bar.

Die „Crew“, eine Art Ortsverein, erwartet 20 Gäste. Am Ende des Abends werden es neun gewesen sein. Schlömer blickt auf die zusammengerückten Holztische. „Ich kann mich ja da hinsetzen“, sagt er und lässt sich nahe am Eingang nieder. „Das ist der einfachste Stuhl. Und ich kann am schnellsten weglaufen.“

Schlömer bestellt einen Ingwer-Orange-Tee und tippt auf seinem Smartphone herum. „Was heißt‘n ’superfluum‘?“ Seine Tochter braucht Hilfe bei ihrer Lateinhausaufgabe. Schlömer hat zwei Kinder, die er wieder häufiger sehen will. Über sie sollen keine Details in der Zeitung stehen. Es ist das einzige Mal, dass Schlömer der Berichterstattung über ihn eine Grenze setzt.

Wie war das mit Ponader?

Die Piraten sehen aus wie Grüne: Männer und Frauen zwischen 40 und 60. Schwule und Heteros. Darunter ein Architekt, ein Koch und Reiseleiter, ein IT-Fachmann. Dazu eine ältere Frau im Wollpulli, die immer dazwischen redet. Wie war das mit dem Ponader?, will die Frau im Wollpulli wissen. „Ich habe noch nie mit Johannes Streit gehabt. Das wurde immer so dargestellt.“ Hat er sich wirklich gegen das bedingungslose Grundeinkommen ausgesprochen? „Das war missverständlich formuliert.“ Ist er für eine Frauenquote in der Partei?

Schlömer will sich nicht festlegen. Wie kann der Sozialstaat erhalten bleiben? „Der Staat soll sich nicht um jeden Scheiß kümmern“, mehr Nachbarschaftshilfe werde nötig. Er führt Meinhard Miegel und sein Buch „Exit – Wohlstand ohne Wachstum“ an. Miegel steht der CDU nah.

Schlömer beugt sich nach vorn, es ist spät, er ist müde. „Wir gelten immer als Partei des beginnenden Internetzeitalters“, sagt er. „Aber wir haben überhaupt keine Aussagen darüber, wie unsere zukünftige Arbeitswelt aussehen wird.“ Schlömer würde ja gern mithelfen bei der Rettung der Welt. Aber die Piraten reden lieber, anstatt zu entscheiden. „Ich bin kein Mensch, der behauptet, er habe Visionen. Eher setze ich Beschlüsse um.“ Es klingt fast flehentlich.

Die Frau im Wollpulli ruft: „Also bist du eigentlich doch‘n Beamter!“ Die Piraten am Tisch lachen. Bernd Schlömer blickt auf sein Smartphone. Seine Lippen bilden einen schmalen Schlitz.

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6 Kommentare

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  • DG
    Don Geraldo

    Ich finde es ja ganz charmant, wenn Parteifunktionäre ihrer Partei keine bestimmten Positionen bei Sachfragen vorschreiben wollen.

     

    Aber selbst dann kann man doch wohl erwarten, daß diese Funktionäre auch eine eigene Meinung haben und diese auch öffentlich artikulieren können.

  • L
    leser86893

    Die Piraten haben doch bereits ein (ganz gutes!) Programm, und in den Parlamenten, in denen sie bereits sitzen, konkretisiert sich das mit der Transparenz und der Bürgerbeteiligung etc. auch zunehmend, in vernünftiger und vielversprechender Weise. Diesen Vorwurf finde ich mittlerweile bischen abgelutscht und unfair, außerdem sind sie, wenn überhaupt, einstellige Opposition und nicht Regierung (aber was nicht ist, kann durchaus noch werden).

     

    Eine Haltung zu vielem haben sie, also die Mitglieder, eigentlich auch, aber es stimmt, dass diese bisher, wie auch ihre Arbeit, zu wenig sichtbar wird anhand von konkreter Tagespolitik. Da sind sie zu lahm, man wartet auf statements zu ihren Urthemen, und es kommt nix, bzw. zu spät. Dazu täglich irgendwelche Gates, und einige, naja, leicht konfuse bis ungebildete Leute, die sich wirr äußern... Aber so ist das Volk eben, und man muss es nehmen wie es ist. Tip an Schlömer: Meinhard Miegel ist INSM-Lobbyist und saß zu Hochzeiten des Talkshowneoliberalismus ("Wir müssen den Gürtel enger schnallen") wöchentlich bei Sabine Christiansen. Da gibt es wirklich bessere Bücher zum Thema.

  • A
    anke

    @Matthias Raupach:

    Tatsächlich. Die anderen Parteien haben auf alle Journalisten-Fragen sofort eine Antwort. Sie sind einfach lange genug im Geschäft und zentralistisch bzw. hierarchisch strikt genug organisiert. Sie haben genügend Geld und Berater, die ihr Handwerk in der "Freien" Wirtschaft gelernt haben. Die anderen Parteivorsitzenden, nehme ich an, formulieren die Fragen höchstpersönlich aus und diktieren sie den Journalisten in die Feder, bevor sie die staunende Öffentlichkeit mit Floskeln abspeisen. Das nennen sie dann Führungsstärke, während sie sich auf die stolzgeschwellte Brust schlagen und sich für diverse Spitzenpositionen empfehlen. Dort läuft die Sache dann genau so ab wie im Medien-"Dialog": Themen setzen, Antworten geben, nicken lassen und zuletzt bis in den Keller durchprügeln – fertig ist die Demokratie. Aber trösten Sie sich: Die Piraten haben mit ihrem uni-geprüften Militär-Beamten vermutlich einen kompetenten Spitzenpolitiker. Wenn nicht gar ein Naturtalent. Der Bundes-Bernd wird das blöde Scheißspiel schon lernen. Und dann kann nichts und niemand mehr die Piraten aufhalten auf ihrem Weg nach oben, wetten?

  • S
    Sören

    Entschuldigung, aber die Piraten-Partei wurde in Deutschland vor 6 Jahren gegründet. Da kann man erwarten, dass sie in den einzelnen Politik-Feldern zumindest einige Grundsätze vorweisen können. Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise besteht seit 2008 (Zusammenbruch Lehmann) bzw. die akuten Probleme in der Euro-Zone seit 2010. Auch da müsste man erwarten können, dass die Piraten etwas zu sagen haben.

     

    Der Unterschied zu anderen Parteien ist eigentlich recht simpel: Die Fraktionen im Bundestag können auf den wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zurückgreifen; in den Partei-Zentralen gibt es Referenten und es gibt die Think-Tanks, die Material liefern. Diese Infrastruktur steht den Piraten nicht zur Verfügung, das kann man ihnen zugestehen. Aber ich dachte, die Piraten können auf den "Schwarm" zurückgreifen?

  • MR
    Matthias Raupach

    Faszinierend wie man so einen Artikel schreiben kann, er hält sich zu 100% an Fakten, aber suggeriert, das Piraten keine Positionen haben und nicht in der Lage sind Beschlüsse zu fassen.

     

    Wirklich interessant.

     

    Vor allem wenn man merkt das man den Vorsitzenden nicht angreifen kann, dafür ist Bernd Schlömer zu cool.

    Aber dann greift man lieber die Partei an sich an...

     

    Nungut, wie wäre es einmal mit einem Artikel über die Positionen der Piratenpartei?

    Obwohl, dann müsste es wohl eine Sonderausgabe werden, denn die würde die taz wohl komplett füllen, sofern man sich sehr kurz fasst.

     

    Aber wie läuft es so schön?

     

    Zuerst fragt man die Piraten nach der Umweltpolitik, weil da noch keine Position beschlossen wurde, dann hatten die Piraten eine und es wurde ignoriert.

    Danach fragte man die Piraten zu dem Afgahnistaneinsatz, weil man wusste: Sie haben noch keine Position, aber als sie eine hatten, wurde die Frage nicht mehr gestellt.

    Nun wird die Piratenpartei nach ihrer Lösung für die Wirtschaftskrise gefragt, und sie haben noch keine, wird wohl auch dauern, denn das ist ein echter Brocken und wer will denn bei soetwas komplexes leichtfertig mit Geldern umsichwerfen?

    Aber evtl finden die Piraten eine Lösung, aber wenn es soweit ist, will sie niemand hören, dann fragt man sie nach etwas anderem wo sie noch keine Position zu haben....

     

    Ich frage mich, ob soetwas nur mit den Piraten funktioniert oder haben die anderen Parteien tatsächlich auf alles sofort eine Antwort ?

  • P
    Peter

    Mit Bernd Schlömer an der Spitze blicken wir nur in einer Richtung in die Zukunft - auf unsere Fußspitzen.