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Archiv-Artikel

Pickelhauben und Frauen in Hosen

FOTOGRAFIE Der Bildband „Berlin. Die Welt von gestern in Farbe“ versammelt handkolorierte Panoramafotos aus der Kaiserzeit und Fotoreportagen aus dem Alltag der kleinen Leute

VON NINA APIN

„Berlin ist wie Chicago, nur viel mehr gewaschen, gestärkt und gebügelt“, befand 1908 der Chicagoer Journalist Georg Ade. Vermutlich bewegte sich Ade vornehmlich an den offiziellen Schauplätzen der Kapitale des Deutschen Kaiserreichs. Wie aufgeräumt, quasi mit Bügelfalte versehen, es zwischen Brandenburger Tor, Schlossplatz und Gendarmenmarkt um die vorletzte Jahrhundertwende zuging, zeigen aufwendig von Hand nachkolorierte „Kaiser-Panoramen“, die in dem Bildband „Berlin. Die Welt von gestern in Farbe“ nun erstmals veröffentlicht werden. Die Panoramafotografien, die meist am frühen Morgen mit einer Stereokamera aufgenommen wurden, auf Glasdiapositive gebannt und dann koloriert wurden, waren zum Verkauf bestimmt. Sie zeigen ein hochoffizielles Berlin voller Prachtbauten, Denkmäler und akkurat gestutzter Rasenflächen, zwischen denen das preußische Militär paradierte. Die Alltagsfotografie war noch nicht erfunden, die Linse der Fotografen richtete sich auf festlich gekleidete Menschen, die sich versammelten, um Flugvorführungen oder die Vermählung des Kronprinzen Wilhelm mit der Herzogin zu Mecklenburg zu bestaunen.

Starr, fast wie gemalt wirken die Aufnahmen mit ihren unnatürlich grellen Farben, den überlangen oder von der deckenden Untergrundfarbe getilgten Schatten. Der Prunk des Kaiserzimmers im Stadtschloss, das 1901 eingeweihte Bismarck-Nationaldenkmal vor dem Reichstagsgebäude, die Männer und Frauen mit ihren steifen Hüten und bodenlangen Röcken – Ästhetik und Motive der Bilder zeigen eine heutigen Zeitgenossen gänzlich fremde Welt. Als lebensweltliche Ergänzung haben die Herausgeber den Panoramen Reportagefotos von Heinrich Zille und den Gebrüdern Haeckel zur Seite gestellt.

Diese zeigen Kinder, die im Strandbad Wannsee planschen, Spreewaldammen mit schlachtschiffartigen Kinderwägen im Tiergarten und die gutbesuchte Terrasse des Café Kranzler an der Friedrichstraße. Zwischen Zilles zerlumpten Kindern in der Armensiedlung Am Krögel, dem Blick in die Montagehalle der AEG Turbinenfabrik in der Moabiter Huttenstraße und dem Besuch von Kaier Wilhelm II. und Kaiserin Auguste Viktoria beim Potsdamer Schrippenfest wird das Spannungsfeld einer Metropole deutlich, die Reichshauptstadt, Industriemotor und gesellschaftlich-künstlerisches Labor in einem ist.

In seinem Roman „Ein Stadtschicksal“ prophezeit der Kunsthistoriker Karl Scheffler 1910: „Was nun aber für Berlin außerordentlich bezeichnend ist, (…) das ist die Tatsache, daß die junge Reichshauptstadt sich mit wahrer Gier und mit Leidenschaft zum Anwalt der neuen Lebensidee gemacht hat, zur Vorkämpferin der neuen Industriekultur, daß es sich zuerst in Deutschland und am rücksichtslosesten in ganz Europa amerikanisiert hat.“ Davon legen dann auch die Telegrafenfräuleins im Fernmeldeamt (noch in Schwarzweiß) und das explodierende Vergnügungs- und Reklamewesen (schon teilweise in Farbe) in diesem Buch ein wirklich beeindruckendes Zeugnis ab.

■ „Die Welt von gestern in Farbe. Berlin“. Herausgegeben von Christian Brandstätter. Essay und Textauswahl von Philipp Blom. Mit 164 Abbildungen nach handkolorierten Glasdiapositiven, Farb-Photochromen und Schwarzweiß-Photographien. März 2011, Christian Brandstätter Verlag, Wien. 160 Seiten, 29,90 Euro