Philosophin Julia Kristeva in Berlin: Kultur des Fragezeichens

Die Philosophin Julia Kristeva spürte im Rahmen der "Berliner Lektionen" einer europäischen Identität nach.

Die französische Philosophin, Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Julia Kristeva im Jahre 2006. Bild: dpa

Europa ist ein Antidepressivum, erfüllt von der Liebe zum Fragezeichen. Die französische Philosophin, Psychoanalytikerin und Linguistin Julia Kristeva erwies sich am Sonntag in Berlin einmal mehr als sprach- und bildgewaltige Anwältin eines Europas, dessen Stärke in der eigenen Unsicherheit liegt. Kristeva gilt seit den 1970er Jahren als eine der wichtigsten Figuren der intellektuellen französischen Linken. In der von ihrem Ehemann Philippe Sollers mitgegründeten Zeitschrift Tel Quel veröffentlichte sie neben Roland Barthes und Michel Foucault. Ihre Arbeiten zur Intertextualität und ihre feministischen Studien bestimmen literatur- und kulturwissenschaftliche Debatten bis heute.

Bereits in ihrem 1990 erschienenen Werk "Fremde sind wir uns selbst" spürte Kristeva der Frage nach einer europäischen Identität nach. Der dort vollzogene Parforceritt durch die europäische Geistes- und Kulturgeschichte gab auch die Richtung ihres Vortrags im Renaissance-Theater vor. Europäischem Identitätskult und übertriebenem Stolz erteilte Kristeva gleich zu Beginn eine Absage. "Die europäische Kultur ist eine Kultur des Fragezeichens, die durch ihre Unabschließbarkeit und Offenheit für fremde Einflüsse gekennzeichnet ist."

Um diese These zu belegen, wurde Kristeva sowohl in der griechischen Philosophietradition als auch im Christentum fündig. Die dialogische Form der Erkenntnisgewinnung bei Sokrates deutet sie als offene Konfrontation mit dem Anderen, der frühchristliche Denker und suchende Pilger Augustinus dient ihr dabei als europäische Symbolfigur.

In ihrer eigenen Biografie sieht die 1941 in Bulgarien geborene und dank eines Promotionsstipendiums 1966 nach Paris emigrierte Kristeva diese Offenheit gespiegelt. Kants Idee des ewigen Friedens in der heutigen Verfassung der EU bereits verwirklicht zu sehen, klingt aber angesichts akuter Probleme wie dem Umgang mit Flüchtlingen aus Nordafrika dann doch überraschend versöhnlich.

Unorthodox gerät Kristevas Analyse des Verhältnisses von Europa zu seinen einzelnen Nationalstaaten. "Wir brauchen selbstbewusste Nationen in Europa, die sich ihres kulturellen Erbes bewusst sind." Kritisch schätzte sie dabei auch die Rolle der Linken ein, die den Nationalstaatsgedanken bereits aufgegeben und ihn damit der Vereinnahmung von rechts überlassen hätten. Die Nation verglich sie mit einem depressiven Patienten, dem pluralistisches europäisches Bewusstsein als Antidepressivum verschrieben werden solle. Als Basis der kulturellen Vielfalt identifizierte Kristeva die Mehrsprachigkeit. "Für Europäer ist es nicht ungewöhnlich, drei oder vier Sprachen zu sprechen. Europa ist ein polyfones Bollwerk gegen den globalen Trend zur Zweisprachigkeit."

Ausgehend von den Unruhen in den Pariser Vorstädten im Oktober und November 2005 kam Kristeva gegen Ende ihres Vortrags auf Probleme des europäischen Integrationsdenkens zu sprechen. "Den Jugendlichen, die für die Unruhen verantwortlich waren, mangelt es an Idealmodellen. Sie sind gefangen zwischen ihrem muslimisch geprägten Elternhaus und einem Europa, das sie nicht annimmt." Die Wut, die sich in Brandstiftungen und Gewalt gegen Polizisten entladen hatte, verstand Kristeva als Zeichen eines unterdrückten Begehrens. "Die Ausschreitungen waren nicht Ausdruck einer totalen Ablehnung abendländischer Werte. Sie zeigten im Gegenteil, dass Europa weiterhin eine große Anziehungskraft ausübt. Wir glauben nur nicht mehr genug an diese Werte, um sie anderen anbieten zu können."

Die psychoanalytisch gefärbte Interpretation Kristevas ist originell, beruht aber auf einer Projektion der Philosophin, die in ihrer Konsequenz problematisch ist. Denn ist es wirklich sicher, dass sich die aufständischen Jugendlichen nach Anerkennung im Schoße der europäischen Tradition sehnen? Ein derartiges Erklärungsmodell erinnert zu sehr an Versuche von Demokratieexport. Ein Europa, dem es mit seiner Liebe zum Fragezeichen ernst ist, müsste vielmehr endlich ernst nehmen, dass nicht abendländische Denk- und Lebensweisen längst zu seinem Alltag gehören.

Dass dies durch eine Rückbesinnung auf abendländische Traditionen gelingen kann, so dekonstruktiv gebrochen diese auch sein mögen, ist fraglich. Julia Kristeva konnte, vorerst zumindest, keine andere Antwort geben.

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