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Philosoph über den Nahostkonflikt„Frieden ohne Wahlrecht“

Nur radikale neue Lösungen helfen aus der verfahrenen Lage, sagt einer der bekanntesten palästinensischen Intellektuellen, Sari Nusseibeh. Etwa ein Einheitsstaat.

Wird nichts getan, wird es immer nur schlimmer, sagt Sari Nusseibeh. Graffiti von Yasser Arafat (r.) und Sheik Ahmed Yassin in Gaza. Bild: dapd
Ralf Leonhard
Interview von Ralf Leonhard

taz: Herr Nusseibeh, in Ihrem neuen Buch vertreten Sie die provokante Idee, dass die Palästinenser in einem Einheitsstaat mit den Israelis zusammenleben sollten – in dem aber nur die Juden das Wahlrecht hätten.

Sari Nusseibeh: Das Buch enthält viele interessante Ideen, aber diese wird immer herausgegriffen.

Immerhin wird diese Idee schon im Vorwort prominent präsentiert.

Der Vorschlag beruht auf der Annahme, dass die Zweistaatenlösung nicht mehr umsetzbar erscheint. Wenn der palästinensische Staat, von dem viele träumen, heute durch diese Tür käme, würde ich ihn willkommen heißen. Aber wir haben eine halbe Million Israelis, die jenseits der Grünen Linie von 1967 im Westjordanland leben. Die Hälfte der Siedler wohnt im Großraum Jerusalem. Wie können wir eine halbe Million Leute umsiedeln? Und haben wir das moralische Recht dazu? Durch gewaltlosen Widerstand werden wir das nicht schaffen. Vielleicht durch einen Atomschlag, aber nicht durch Demos jeden Freitag.

Aber warum sollten die Palästinenser auf ihr Wahlrecht verzichten – nur damit sie mit den Isrealis in einem Staat zusammenleben?

Was wären denn die anderen Optionen? Nummer eins wäre, nichts zu tun. Das bedeutet, es wird immer schlimmer. Damit meine ich nicht, dass ein dritter Weltkrieg oder ein Atomkrieg ausbricht – aber das Leben würde für beide Seiten noch weniger erträglich. Option zwei wäre, was vor allem die Palästinenser vorschlagen: Man lebt in einem einzigen Staat zusammen, in dem alle gleiche Rechte genießen. Das wäre gerecht, hat aber den Haken, dass die Israelis diese Lösung strikt ausschließen. Sie wollen nicht in einem Staat leben, wo die Araber die politische Mehrheit stellen könnten. Dieser Weg endet also in der Sackgasse.

Sari Nusseibeh

ist Philosoph, Politiker und seit 1995 Präsident der Al-Quds-Universität in Jerusalem. Gerade erschien von ihm „Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost“ (Kunstmann).

Deswegen denken Sie ganz radikal?

Ich finde, dass man über eine dritte Option nachdenken sollte. Am Ende sollte eine Föderation zwischen einem palästinensisch-arabischen und einem jüdischen Staat stehen.

Also doch eine Trennung entlang der Grenze von 1967?

Nein. Dieser Staat wäre nicht unbedingt durch die Linie von 1967 geteilt, sondern entlang ethnischer Grenzen. In Israel wie im Westjordanland gibt es rein arabische und rein jüdische Städte. Zugleich gibt es Fälle wie Haifa, wo sich die Bevölkerungen mischen und etwa 20 Prozent arabisch sind. Ich stelle mir einen offenen Raum vor, wie er in Europa oder den USA existiert, wo zwei politische Einheiten bestehen: die palästinensische und die jüdische. Beide regieren ihre jeweilige Bevölkerung, aber in einem gemeinsamen Staat. Ein Israeli könnte von Tel Aviv überall ohne Kontrolle hinfahren. Das sollte umgekehrt auch für die Palästinenser gelten. Geben wir also den Palästinensern zivile Rechte!

Aber der übergeordnete Staat würde nur von den Juden regiert?

Die Palästinenser sollten Bewegungsfreiheit haben und überall eine Arbeit oder Wohnung suchen können. Sie hätten einen garantierten Zugang zu allen sozialen Dienstleistungen, aber nicht unbedingt das aktive und passive Wahlrecht für die Knesset.

Das heißt, trotz Uno-Resolutionen müssten die Palästinenser auf ihre Ansprüche verzichten?

Ostjerusalem, das die Hauptstadt eines Palästinenserstaates werden soll, ist heute mehrheitlich jüdisch. Man kann nicht mehr in den Kategorien von 1967 denken. Aber man kann zumindest versuchen, sich der damaligen Zeit anzunähern. Zwischen 1967 und den späten 1980er Jahren konnten sich die Menschen frei bewegen und hatten Arbeit in verschiedenen Gebieten. Heute ist das nicht mehr möglich. Vor allem die Palästinenser haben keine Bewegungsfreiheit. Es wäre schon ein Fortschritt, wenn wir zumindest grundlegende Bürgerrechte genießen würden.

Was würde Ihr Modell für das als heilig geltende Rückkehrrecht von fünf Millionen Flüchtlingen bedeuten?

Es ist doch die noch immer offiziell angestrebte Zweistaatenlösung, die das Rückkehrrecht aufgeben würde. Das gibt zwar niemand zu, aber ich sage hier die Wahrheit. Es ist nicht machbar, dass die Israelis einem Palästinenserstaat zustimmen und gleichzeitig zulassen, dass Millionen Palästinenser nach Israel kommen. Die Israelis sollen die Rückkehr von zwei oder drei Millionen Menschen in ihr Land erlauben? Wer das glaubt, ist dumm.

Im Einheitsstaat wäre eine Rückkehr einfacher?

Rückkehr heißt, in den Raum Israel-Palästina zurückzukehren. Es gibt mehr als 500 Dörfer, die völlig zerstört wurden, darunter das meines Großvaters. Ich kann nicht hoffen, in das Haus meines Großvaters zurückzukehren, weil es das nicht mehr gibt. Aber ich will das Recht haben, in das Territorium zurückzukehren, und Niederlassungsfreiheit genießen.

Warum sollten die Israelis das akzeptieren?

Eine Zweistaatenlösung ist derzeit nicht möglich. Wenn die Israelis nicht nach Kompromissen suchen, haben sie nur zwei Optionen, mit uns Palästinensern umzugehen: Entweder herrschen sie in einem Apartheidsystem über uns. Das würde die Gesellschaft spalten und Probleme mit der internationalen Gemeinschaft schaffen. Oder aber sie rotten uns aus. Das aber geht heute nicht mehr. Wenn die Israelis über ihre eigene nachhaltige Zukunft nachdenken, dann müssen sie sich etwas einfallen lassen. Anfangs dachten sie, sie könnten ihren jüdischen Staat aufbauen und wir würden irgendwo in der Wüste verschwinden. Als sie 1967 den zweiten Krieg gegen uns gewannen, haben sie das palästinensische Territorium wiedervereinigt. Heute leben mehr Palästinenser im historischen Palästina als in der Diaspora. Das ist für Israel eine sehr unangenehme Vorstellung.

Um wie viele Menschen geht es?

Wir sprechen hier von mehr als fünf Millionen Palästinensern im historischen Palästina. Wir waren 100.000 auf israelischem Gebiet. Heute ist es eine Million, auf dem restlichen Territorium sind es vier Millionen. Damit müssen sich die Israelis arrangieren.

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11 Kommentare

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  • CR
    Christine Rölke-Sommer

    @E.M. - das, was Nusseibeh da aufmacht, ist die differenz zwischen demokratieprinzip und tatsächlicher teilhabe. er legt damit, und zwar für das kernland wie für die besetzten gebiete, den finger in die wunde: wie demokratisch geht es zu, wenn der zugang zu land und dessen resourcen entlang ethnisch-religiöser linien geregelt ist? wo bleibt die 'rule of law', die individuelle gleichheit vor dem gesetz, wenn das formal gleich-scheinende wahlrecht nicht verhindern kann, dass die einen die anderen vom boden ablösen, also via bodenrecht und personalstatut, vertreiben dürfen?

    also hat er zu einer paradoxen intervention gegriffen, auf dass endlich wieder über ko-existenz vor und jenseits nationalistisch-nationalstaatlicher chimären diskutiert werden könne.

    bei allen denen, die für frieden halten, wenn völker fein säuberlich voneinander getrennt leben, macht er sich damit keine freunde.

  • E
    E.M.

    Es kann doch nicht ernst gemeint sein, dass man in einem ,,demokratisch'' regierten Staat für die mindesten und selbstverständlichsten Rechte -wenn man nach dem Demokratiprinzip geht- auf das aktive Wahlrecht verzichten muss/soll...Warum soll das eine, das andere ausschließen...oder will man so etwas als ein Kompromiss bezeichnet?! Würde man sich in DE oder in einem anderen europäischen oder gar demokratisch regierten Staat so etwas vorstellen können?! ,, Damit du hier von den selbstverständlichen Rechten eines Bürgers Gebrauch machen kannst, muss du dich damit abfinden, dass du nicht am politischen Geschehen mitwirken, gar mitentscheiden darfst....''da würd man glaub ich den Vogel zeigen...Ich persönliche finde, dass die Menschen dort genauso viel Wert sind wie wir hier in Europa... das, was ich für mich nicht wünsche, wünsche ich auch nicht den Palästinensern...

  • E
    end.the.occupation

    Aber ich dachte doch immer, Israel sei die einzige Demokratie im Nahen Osten?! Also wie kann die taz nun einen Bericht veröffentlichen, der was völlig anderes signalisiert?

     

    Hat mich die taz früher belogen - oder belügt sie mich heute - mit diesem Bericht? Wo bleibt Deniz Yücel - der Vorzeige-Intellektuelle und Israel-Versteher der taz, der mir das alles erklären kann?

  • CR
    Christine Rölke-Sommer

    je nun, @E.M. - ist ein palästinensisches bürgerin eines 1. klasse, wenn es zwar wählen darf - dies aber nur solange, wie er-sie-es nicht das nach personalstatut und staats- oder auch nicht-angehörigkeit falsche menschlein ehelicht? und was hilft das schönste wahlrecht zu was auch immer, wenn besatzungsrecht den neubau von häusern nicht vorsieht, alldieweil es den sicherheitsinteressen widersprucht, einen flächennutzungs-/bebauungsplan aufzustellen? oder auch nur den erwerb eines grundstücks im grundbuchamt eintragen zu lassen?

    im übrigen finde ich, tut mann Sari Nusseibeh unrecht, wenn mann ihn bzw. seine ideen als "absolut naiv und sinnlos" bezeichnet. vielleicht machst du dich erst mal über seine vita etwas schlauer?

  • E
    E.M.

    Ehrlich gesagt finde ich diesen Vorschlag absolut naiv und sinnlos... denn würde man so eine Idee akzeptieren, kämen andere ,,gut gemeinte'' hinterher. Das man im 21. Jhd. für das Erlangen der wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte auf das aktive Wahlrecht verzichten soll?! ist absolut inakzeptabel...An dieser Stelle ist auch etwas Empathie zu erwarten. Wäre ich ein palästinensicher Bürger,würde ich mich -mit dieser Idee- absolut erniedrigt fühlen...als wären sie Menschen 2.Klasse..

    Übrigens finde ich die Äußerung, das die Muslime Verständnis für die historischen Erfahrungen der Juden haben sollten, äußerst unpassend. Ein Volk, das selbst am eigenen Leibe Unterdrückung und Demütigung erlebt hat, sollte sich erst Recht für ein GERECHTES und friedliches Miteinander einsetzen....

     

    Menschen, die sich als demokratisch und aufgeklärt bezeichnen, sollten ZUMINDEST in der Lage sein, Sachverhalte objektiv zu betrachten...

  • S
    Senckbley

    @ xbartxmanx: "...die muslime sollten verständnis für die situation der juden entwicklen (damit meine ich vorallem deren vergangenheit und ihr großes trauma, welches nicht ausreichend in muslimischen ländern gelehrt wird)

     

    Danach sieht es nicht ansatzweise aus. Der nette Herr Abbas hat z.B. 1984 in einer "Studie" die Existenz von Gaskammern bestritten (in Deutschland würde er dafür in den Knast kommen). Schulbücher in den PA-Gebieten handeln vom bewaffeneten Kampf, Dschihad und Märtyrertum.

  • CR
    Christine Rölke-Sommer

    Ich lese Sari Nusseibeh immer wieder gern! hier im interview spricht er an, dass politische freiheit ohne die sog.WSK-rechte (wirtschaftliche, soziale und kulturelle menschenrechte) nicht so richtig funktioniert. weshalb er, der schlaue kerl, meint, das aktive wahlrecht (zur knesset z.b.) sei eher verzichtbar als das recht der freizügigkeit, das passive wahlrecht eher als das recht auf wasser oder baugenehmigung für alle zu gleichen bedingungen. damit erinnert er daran, dass die gleichheit vor dem gesetz bei den materiellen bedingungen anfängt. und er knüpft damit an das an, was im jüdischen/rabbinischen denken als eruv diskutiert und praktiziert wird, was man auch praktische solidarität nennen könnte und was heutzutage auch als das right of belonging diskutiert wird (Nira Yuval-Davis). - was die UN gegen ein solches menschenrechtsverständnis haben könnte, erschließt sich mir nicht. um gegenteil!

  • JD
    Johnny D.

    Eine bizarre Idee und eine nutzlose. Sollten dann die 20% der israelischen Staatsbürger muslimischen Glaubens auch ihr vollen Bürgerrechte abgeben die sie heute besitzen?

    Und werden Hamas, Islamischer Djihad und Hezbollah dann ihre Waffen niederlegen und aufhören den Judenstaat zu bekämpfen den sie so hassen?

     

    Ich denke nicht.

  • T
    Tobias

    "Entweder herrschen sie in einem Apartheidsystem über uns. Das würde die Gesellschaft spalten und Probleme mit der internationalen Gemeinschaft schaffen."

     

    Was ist denn ein Staat, in dem eine ethnische Gruppe von Einheimischen das Wahlrecht hat und die andere nicht, anderes als ein Apartheidsystem?

     

    Dieser Vorschlag ist nicht nur undemokratisch, er ist auch hoffnungslos naiv: Die Idee, dass die Palästinenser völlig gleichberechtigt neben den jüdischen Israelis leben können, nur eben ohne Wahlrecht, geht völlig an der Realität vorbei. Kein Wahlrecht bedeutet, dass auf die Interessen der Palästinenser in diesem Einheitsstaat keine Rücksicht genommen zu werden braucht. Ergo werden die Palästinenser dauerhaft wirtschaftlich benachteiligt werden, natürlich keineswegs gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Leistungen bekommen (genau wie es den israelischen Arabern heute schon ergeht, nur noch schlimmer) und ganz generell eine weitgehend entrechtete Unterschicht darstellen, die bestenfalls für die Drecksarbeiten zuständig ist.

     

    Wenn das Reizwort "Apartheid" zur Beschreibung dieses Zustandes nicht genehm ist, kann man sich auch gerne an den US-Südstaaten der "Jim Crow"-Ära orientieren. Da hatten Schwarze zwar sogar nominell das Wahlrecht, von dem sie aber durch diverse Tricks de facto ausgeschlossen waren. Und obwohl Schwarze und Weiße de iure im "separate but equal"-System die gleichen Rechte hatten, waren die Schwarzen natürlich de facto zu einem dauerhaften Dasein im Schatten der weißen Bevölkerung verurteilt.

     

    Herrn Nusseibeh scheint auch nicht ganz klar zu sein, dass er sich als Kronzeuge hergibt für die Apologeten der israelischen Politik, welche nun auf seine Vorschläge zeigen können, um zu sagen: 'Seht her, die Palästinenser *wollen* von uns beherrscht werden, ohne Mitspracherecht zu haben!'

  • X
    xbartxmanx

    keine wahlrechte für die palästinenser? da sträuben sich mir ja die nackenhaare.

    der ansatz ist nicht schlecht aber wohl nicht konsequent zuende gedacht. was wäre denn das signal? ich glaube auch nicht das die uno diese vermeindliche lösung akzeptieren würde, gerade im hinblick auf die durch ihr vertretenden menschenrechte.

    jeder ist gleich vor dem gesetz! das ist vorraussetzung eines jeden staates. um das zu erreichen sollten sich die juden von ihrem selbsterhaltungstrieb verabschieden (denn bei einer vermischung würden die muslimische bevölkerung schneller zunehmen als die der juden) und die muslime sollten verständnis für die situation der juden entwicklen (damit meine ich vorallem deren vergangenheit und ihr großes trauma, welches nicht ausreichend in muslimischen ländern gelehrt wird)

    vielleicht ist es eines tages soweit und es gibt diesen einen staat. bis dahin sollte man sich aber nicht mit halbherzigen gedanken beschäftigen. durch gezielte schulung der bevölerkung beider länder übereinander könnte hass beseitigt werden. die frage eines einheitsstaates bleibt bestenfalls, und leider wieder einmal eine frage folgender generationen.

  • A
    Alex

    Die Israelis sollten auch mal ein paar Jahre weiterdenken. Heute müssen sie vielleicht keinen gleichberechtigten souveränen Palästinenserstaat neben sich erdulden, aber die weltweiten Machtverhältnisse verschieben sich, die Schutzmacht USA verliert ihre wirtschaftliche und langfristig auch ihre militärische Vormachtsstellung, Russland und China werden dann in anderen Kategorien denken. Ein israelischer Staat der sich jetzt unversöhnlich gibt, steuert unweigerlich auf eine Katastrophe zu. Israel kann sein Überleben nur mit Friedensverhandlungen sicherstellen.