Pflegekräfte in der Coronakrise: Systemrelevant und schlecht bezahlt

Mit dem neuen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst bekommen Pflegekräfte bald mehr Geld. Davon profitiert aber nur ein kleiner Teil.

Demonstration von Pflegekräften auf dem Berliner Kurfürstendamm

Ende September demonstrierten Pflegekräfte auf dem Berliner Kurfürstendamm Foto: Stefan Zeitz/imago

BERLIN taz | Ende September demonstriert die Krankenpflegerin Lena Hillers auf dem Berliner Kurfürstendamm, um Jens Spahn mit den Problemen in ihrem Beruf zu konfrontieren. Die Auszubildende aus Hamburg hat sich dafür extra von der Berufsschule freistellen lassen. Nach der Gesundheitsministerkonferenz hält sie mit ihren Mit­strei­te­r*in­nen Transparente mit 12.500 Fotos von wütenden Pflegekräften in die Höhe.

Zu diesem Zeitpunkt verhandelt die Gewerkschaft Verdi mit dem Arbeitgeberverband den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). Einen knappen Monat später einigen sich beide Parteien auf eine Lohnerhöhung von 8,7 Prozent für Pflegekräfte. Lena Hillers profitiert davon nicht.

Die 21-jährige Pflegerin arbeitet in einem Krankenhaus in kirchlicher Trägerschaft. Damit gehört sie zu den Pflegekräften, die nicht nach dem neuen Tarifvertrag bezahlt werden. Auch die meisten Pflegekräfte in privat geführten Kliniken haben eigene Vereinbarungen. Verhandelt wurde für die Angestellten bei Bund und Kommunen.

Für sie erkämpfte Verdi mitten in der zweiten Welle der Coronapandemie 8,7 Prozent mehr Lohn bei einer Laufzeit von 28 Monaten, für Intensivkräfte rund 10 Prozent. Hinzu kommen Zulagen und eine Prämie von bis zu 600 Euro. Der Vertrag gilt als ein Zeichen der Wertschätzung. Verdi-Vorsitzender Frank Werneke lobte „deutliche Verbesserungen“. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sprach gar von einem „historischen Durchbruch“.

„Viele Pflegekräfte resignieren“

Auf Lob und Klatschen seit der ersten Welle im Frühjahr folgt nun tatsächlich eine monetäre Aufwertung – allerdings nur für einen Teil der Pflegekräfte. Rund 1,7 Millionen Menschen sind laut der Bundesagentur für Arbeit in der Alten- und Krankenpflege beschäftigt. Nach Angaben von Verdi gilt der neue Vertrag bundesweit für 200.000 Pflegekräfte.

„Ich gönne es den Leuten auf jeden Fall und irgendwo muss ja der Anfang gemacht werden“, sagt Krankenpflegerin Hillers. „Aber auf lange Sicht muss das angeglichen werden, damit es gerecht ist.“ Sie hat sich solidarisch an der Demonstration in Berlin beteiligt. Auch weil sie hofft, dass der Abschluss nun Einfluss auf nachfolgende Verhandlungen hat. „Viele Pflegekräfte resignieren, weil sie seit Jahrzehnten kämpfen und die Zustände sich nie deutlich verbessert haben“, sagt sie.

Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell kritisiert, dass in der Öffentlichkeit nun der Eindruck entstanden sei, dass alle Pflegekräfte die Erhöhung erhalten. „Ob die freigemeinnützigen Träger oder, noch schlimmer, die privatwirtschaftlichen Träger diese tariflichen Verbesserungen übernehmen, ist jedoch erst einmal eine ganz offene Frage“, sagt er. Und selbst wenn, gebe es noch immer eine Zeitverzögerung, die je nach Verhandlungsfristen erheblich sein könne. „Dass auch die Altenpflege gleich mit abgefrühstückt wurde, ist absoluter Unsinn, weil der Anteil der kommunalen Träger in diesem Bereich sich auf unter fünf Prozent beläuft.“

Die Gehaltsunterschiede in der Pflege machen je nach Bundesland und Einrichtung mehrere hundert Euro pro Monat aus. Pflegefachkräfte, die nach dem TVöD bezahlt werden, verdienen nach Angaben von Verdi ab April 2021 nach 15 Jahren 3.659,56 Euro im Monat. Zum Vergleich: Bei einem der privaten Träger liegt ihr Gehalt derzeit bei 3.140 Euro.

Ein Vertrags-Wirrwarr

Fachkräfte in der Altenpflege verdienen generell weniger. Das durchschnittliche Gehalt liegt nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei 3.032 Euro. Auch die Zahl der Wochenstunden oder Urlaubstage, ob und in welcher Höhe Wechselschichten und Überstunden vergütet werden, sind je nach Vertrag unterschiedlich.

In der Krankenpflege gibt es ein komplexes Geflecht aus Verträgen mit unterschiedlichen Verhandlungspartnern: Viele Universitätskliniken verhandeln auf Landesebene. Kommunale und Bundeskrankenhäuser zählen zum öffentlichen Dienst. Freigemeinnützige Einrichtungen werden nach kirchlichen Tarifbestimmungen bezahlt. Privatwirtschaftliche Träger haben häufig Hausverträge.

Dabei gibt es immer wieder Sonderfälle: In Brandenburg profitieren nur die Beschäftigten von zwei der insgesamt 22 kommunalen Krankenhäuser von dem TVöD. Die Mehrheit der Kliniken hat den Vertrag aufgekündigt. Einige private Träger haben den Tarifvertrag hingegen übernommen, im Schnitt verdienen Pflegekräfte bei privaten Trägern jedoch noch immer am wenigsten.

Gleichzeitig steigt der Anteil an privaten Kliniken, während die Zahl der kommunalen Träger schrumpft. Waren laut Erhebungen des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen 1992 noch 44,6 Prozent der Kliniken in kommunaler Hand, sind es 2018 nur noch 28,7 Prozent. Im selben Zeitraum hat sich der Anteil an Kliniken mit privater Trägerschaft von 15,5 Prozent auf 37,6 Prozent mehr als verdoppelt.

Der große Wurf blieb aus

Diese Entwicklung hängt mit der Einführung der Fallpauschalen zu Beginn der 2000er Jahre zusammen, in dessen Zuge viele Kommunen ihre Krankenhäuser an private Unternehmen verkauften. In diesem System wird für jeden Krankheitsfall eine feste Pauschale festgelegt. Dauert die Genesung länger, zahlt das Krankenhaus drauf. Um wirtschaftlich zu arbeiten, sparen viele Krankenhäuser daher beim Personal.

Ulrich Mönke hat diese Entwicklung miterlebt. Er ist seit über 40 Jahren Krankenpfleger. Von dem neuen Tarifvertrag profitiert auch er nicht. „Seit ich in diesem Beruf arbeite, gibt es diese Unterschiede“, sagt er. Er sei froh, dass die Pflege bei den Verhandlungen dieses Mal abgekoppelt wurde. „Aber wenn mehr Leute in den Beruf kommen sollen, hätte das der große Wurf sein müssen und das ist nicht der Fall.“

Die Wertschätzung für den Beruf lasse sich ohnehin nicht an Geld festmachen, sagt Krankenpflegerin Rita Müller. „Die Arbeitsbelastungen, unter denen wir arbeiten, sind vielen Menschen nicht bewusst.“ Sie hofft, dass aus dem neuen Tarifvertrag eine Entlastungsbewegung für die Pflege entsteht. Ihren richtigen Namen will sie nicht nennen, weil sie in der Vergangenheit nach öffentlichen Äußerungen Probleme mit ihrem Arbeitgeber bekam. Die 32-Jährige sieht ein Spaltungspotenzial durch die ungleichen Verhältnisse. „Das haben wir auch auf der Intensivstation durch die unterschiedlichen Auszahlungen der Coronaprämie“, sagt sie.

Sozialwissenschaftler Sell beobachtet in der Krankenpflege eine Tendenz, dass private Träger die Löhne anheben, um Personal anzuwerben. In der Altenpflege sei dies aber nicht der Fall, obwohl dort ein großer Personalmangel herrsche. Im stationären Bereich seien etwa 50 Prozent der Einrichtungen in privatwirtschaftlicher Trägerschaft. Im Bereich der ambulanten Pflege, in dem die Angestellten am schlechtesten bezahlt werden, liege der Anteil bei zwei Dritteln. „Wenn die einen Haustarif haben, ist das schon euphemistisch, wenn man sagt, der orientiere sich am öffentlichen Dienst“, sagt der Sozialforscher. Zuerst müsse man Krankenpflege und Altenpflege auf ein Lohniveau bringen.

Das Problem: Gewinnstreben

Verdi hat kürzlich einen ersten Schritt in diese Richtung unternommen und mit dem Arbeitgeberverband einen Mindestlohn für die Altenpflege verhandelt. Ab Januar 2023 sollen Angestellte je nach Ausbildungsgrad 14,15 bis 18,50 Euro erhalten. „Dem Lohndumping, insbesondere von kommerziellen Trägern, wird so ein Riegel vorgeschoben“, erklärte Verdi-Vorstandmitglied Sylvia Bühler.

Auch Altenpflegefachkraft Tatjana Sambale sieht das Problem bei den privaten BetreiberInnen. Die 34-Jährige arbeitet selbst in einem Heim in Nürnberg, in dem es keinen Tarifvertrag gibt. „Die Frage ist doch, warum am Ende des Tages bei anderen Leuten ein Gewinn auf dem Konto entstehen muss“, sagt sie. Es gehe in dieser Logik nicht um die bestmögliche Personalausstattung und Versorgung, sondern darum, dass die Zahlen stimmen.

Auch wenn sie von der Erhöhung ausgeschlossen ist, macht ihr der neue TVöD Hoffnung. „Es zeigt, dass Spielraum da ist, wenn wir entschlossen genug kämpfen.“ Das sei ein wichtiges Signal für die Altenpflege, in der die gewerkschaftliche Organisation sehr gering sei. Die Krankenpflegekräfte stünden zwar durch die Akutversorgung der Coronapa­tienten im Fokus, die Altenpflege werde durch höheren Schutzbedarf in den Heimen jedoch auch stark herausgefordert. „Die Probleme sind dort am größten, wo die Öffentlichkeit weniger hinguckt“, sagt Sambale.

Lea Urban findet, dass die Situation der ambulanten Pflegedienste zu wenig beachtet wird. Die 35-Jährige arbeitet als Pflegeleitung in dem Familienbetrieb ihrer Eltern im Saarland. Sie sieht das Problem in der Finanzierung der Pflegedienste. Mit den Krankenkassen verhandeln die Dienste Preise für Leistungen wie etwa „kleine Morgentoilette“. Bezahlt werden diese mit der Pflegeversicherung, welche die Pflegebedürftigkeit der Betroffenen einstuft. Reicht der Betrag nicht aus, müssen sie den Rest selbst bezahlen oder Sozialhilfe beantragen. „Ich möchte meinen Mitarbeitern gerne 5 Euro mehr die Stunde bezahlen, aber ich weiß nicht wie, wenn ich das dann meinen Kunden aus der Tasche hole“, sagt Urban.

Laut Wissenschaftler Sell wurde mit dem Tarifabschluss verpasst, die Situation der Pflegekräfte insgesamt auf einer strukturellen Ebene zu verbessern. „Gerade wenn man argumentiert, dass der TVöD eine Ausstrahlungsfunktion hat, wäre eine strukturelle Aufwertung umso wichtiger gewesen“, sagt er. Diese Möglichkeit sei nun für die lange Laufzeit von 28 Monaten blockiert.

Zurück vom Protest in Berlin bereitet sich Krankenpflegerin Hillers auf die Tarifverhandlungen in ihrem Krankenhaus vor. Für sie steht dabei jedoch nicht das Geld an erster Stelle, sondern mehr Personal. Sie arbeite gerade in der Onkologie, erklärt sie. Mit der Gegenwärtigkeit des Todes könne sie umgehen. Mit einer anderen Sache nicht. „Wenn ich nach der Schicht nach Hause kommen, fühle ich mich oft schlecht“, sagt sie. Das Gefühl, ihre PatientInnen nicht nach bestem Wissen und Gewissen versorgt zu haben, raube ihr den Schlaf. Denn obwohl der Personalschlüssel bei ihrem Arbeitgeber noch vergleichsweise hoch sei, reiche die Zeit nicht, um menschenwürdig zu pflegen. „Wenn sich das nicht ändert, werde ich nicht lange in der Pflege bleiben“, sagt sie.

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